Friedens- & Sicherheitspolitik

Die Johnson-Legende, oder: „Wie der Westen den Frieden verhinderte“

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Seit einiger Zeit kursiert ein Gerücht in der linken Medienwelt: Bei den Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland in Belarus und in Istanbul habe es Ende März 2022eine große Annäherung gegeben. Sogar ein Friedensvertrag habe vorgelegen, den beide Seiten hätten unterzeichnen wollen. Eine solche Einigung sei durch den britischen Premier Boris Johnson am 9. April bei seinem Blitz-Besuch in Kiew verhindert worden. Diese Absage wird auch gerne so interpretiert, dass dies im Auftrag der NATO bzw. der USA geschehen sei. Somit ist die These komplett, wonach „der Westen“ den Frieden sabotiert habe.

Interessanterweise setzte die russische Nachrichtenagentur TASS am 5. Februar 2023 folgende Meldung ab: „Im April 2022 sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow, dass die russisch-ukrainischen Gespräche, die in Istanbul ziemlich erfolgreich liefen, „auf direkten Befehl der Vereinigten Staaten und Londons“, die „das Selenskyj-Regime vollständig kontrollieren“. abgebrochen wurden. Der russische Abgeordnete Leonid Slutrky, der Mitglied der russischen Delegation bei den Gesprächen mit Kiew war, sagte auch, Selenskyj habe "offensichtlich einen Befehl von den Gönnern Washingtons erhalten, die Verhandlungen zu vereiteln".

Das könnte den Schluss nahelegen, dass Vertreter des Kreml diese Behauptung in die Welt gesetzt haben. Aber selbst wenn das stimmt, ist damit noch nicht gesagt, was daran richtig oder falsch ist. Daher ist es nötig, sich die Sache genauer anzuschauen und nach den Quellen, auf die man sich in diesem Zusammenhang bezieht, zu fragen.

Verhandlungen in Istanbul - der ukrainische Friedensplan?

Die britische Zeitung Faridaily berichtete am 29. März 2022 (Rustamowa 2022), dass ihr ein 10-Punkte-Friedensplan zugespielt worden sei, den die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen in Istanbul vorlegen wollte. Einige Punkte daraus hat der russische Verhandlungsführer Vladimir Medinski öffentlich bestätigt. Eine Autorisierung dieses Plans von ukrainischen Offiziellen gibt es jedoch nicht. Allerdings deckt sich das dort Wiedergegebene mit Positionen, die Präsident Selenskyi im unmittelbaren Vorfeld und nach dem Beginn des Krieges mehrfach öffentlich formuliert hat. Selenskyi war zu weitreichenden Zugeständnissen bereit: Die Ukraine sollte sich als neutralen Staat definieren, der sich keinem militärischen Block anschließt, keine fremden Truppen auf seinem Territorium stationiert und definitiv auf Atomwaffen verzichtet. Dafür sollten die russischen Truppen zurückgezogen werden. Die Ukraine solle ausreichende Sicherheitsgarantien bekommen, die ihre künftige territoriale Unverletzlichkeit sichern sollten. Alle weiteren Details sind unklar bis strittig.

Zuvor hatte die Financial Times am 16. März 2022 (Seddon/Olearchyk/Massoudi 2022) von einem 15-Punkte Plan gesprochen. Auch hier gibt es bei den inhaltlichen Ausführungen ein bestimmtes Maß an Übereinstimmungen. Halten wir vorläufig fest:

  • Ein offizielles, autorisiertes Dokument gibt es bis heute nicht.
  • Das, was von beiden Seiten in der Öffentlichkeit berichtet wurde (Agenturmeldungen, Zeitungsartikel), ergibt kein eindeutiges Bild, was, wie verhandelt wurde oder schon ausverhandelt war.
  • Dazu gehören auch Behauptungen, die Wladimir Putin auf einer Pressekonferenz mit dem Präsidenten von Belarus am 12. April 2022 vorgetragen hat. Bei den Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien die Krim, Sewastopol und der Donbas ursprünglich ausgenommen worden. Dies habe die ukrainische Delegation einseitig verändert. Dagegen könnte sprechen, dass die ukrainische Seite immer darauf bestanden hat, niemals bereit zu sein, die Souveränität des Landes aufzugeben.

Immerhin ist davon auszugehen, dass die Idee einer Neutralität der Ukraine, vergleichbar mit Schweden und Österreich, Eingang in die Entwürfe gefunden hatte. Aber ohne Details zu kennen, scheint es andererseits ziemlich klar (und ergibt sich aus öffentlich zugänglichen Regierungsverlautbarungen der Ukraine), dass die weitreichenden Zugeständnisse – wie der Nichtbeitritt der Ukraine zur NATO – im Gegenzug die Rückführung der russischen Truppen von ukrainischem Territorium voraussetzten. Was wir nicht wissen, ist, wie das Territorium exakt definiert wurde. Dass die staatliche Souveränität der Ukraine durch Regelungen untersetzt werden sollte, die deutlich über das Budapester Memorandum von 1994 hinausgehen mussten, war ebenso klar. Alle Hinweise deuten darauf hin, dass in diesen beiden Punkten (Territorialfrage, Sicherheitsgarantien) keine abschließende Einigung erreicht wurde. Auch das Problem bis wohin sich die russischen Truppenzurückziehen sollten, dürfte umstritten, d.h. ungelöst, geblieben sein. Welche Rolle die Frage spielte, ob sich die Ukraine der EU anschließen könne, bleibt völlig unklar. Im Vorfeld war gemeldet worden, dass die Ukraine von Moskau grünes Licht für einen solchen Beitritt fordere (MDR 2022).

Von einem fertig ausverhandelten Friedensvertrag, der nur noch der Absegnung durch die jeweiligen Präsidenten bedurft hätte, kann also keine Rede sein.

Die russische Seite hat deutlich gemacht, dass Regelungen, die Krim und die Donbass-Region seien Teil der Ukraine, für sie nicht zur Debatte stünde. Die Financial Times schreibt dazu unmissverständlich: „Der größte Knackpunkt bleibt Russland`s Forderung, dass die Ukraine die Annexion der Krim 2014 und die Unabhängigkeit der zwei Separatstaaten in der östlichen Donbas-Region anerkennen müsse“ (Seddon et al 2022). Genau dies hat Außenminister Lawrow bei der Abweisung eines italienischen Friedensplans vom Mai 2022 bekräftigt (s.u.). In der Meldung der Financial Times wie auch in anderen Informationsquellen, ist zudem deutlich nachzulesen, dass die ukrainischen Teilnehmer der Verhandlung sehr skeptisch gewesen sind, ob man Russland nach all den Lügengeschichten zuvor überhaupt trauen könne. Und diese Meldungen liegen vor dem Eintreffen Johnsons in Kiew am 9. April.

Aus dem bisher Geschriebenen folgt: Über das was in Istanbul konkret auf dem Tisch lag, was verhandelt wurde, mit welchem Ergebnis bzw. Nicht-Ergebnis gibt es keine offizielle Verlautbarung. Auch die in den Medien gehandelten Informationen, Mutmaßungen, Interpretationen, man sei einer Friedensvereinbarung sehr nahe gekommen, sind nicht eindeutig und wenig verlässlich.

Ein interessantes Detail ist in der Presse zu finden: Die Verhandlungen seien nach der Annäherung wegen der ungelösten Territorialfragen ins Stocken geraten – auch weil die Delegationen nicht autorisiert gewesen seien, darüber zu befinden. Möglicherweise war auch dies der Hintergrund, der (unmittelbar nach Istanbul) Präsident Selenskyi veranlasste, Wladimir Putin aufzufordern, man möge sich auf höchster Ebene treffen, um den Gordischen Knoten durchschlagen zu können. Dieses öffentlich gemachte Angebot wurde von Putin zurückgewiesen. Warum, wenn doch ein Vertragsdokument vorgelegen haben soll? Auch dies ein Indiz dafür, dass das von Putin lancierte Narrativ des schon ausverhandelten Friedens unrichtig ist.

Der Johnson-Besuch in Kiew am 9. April 2022, oder: Wer weiß was?

Nun gibt es Menschen, die zwar in Istanbul am 29. März 2022 nicht am Tisch saßen, die dennoch genau wissen, was dort ausverhandelt wurde und die auch wissen, was Präsident Selenskyi mit dem britischen Premier Boris Johnson bei dessen Blitzbesuch am 9. April 2022 beredet hat.

Die Erzählung lautet: Der angeblich schon verabredete „Friedensplan“ (s.o.) sei durch Johnson (und die NATO) abgelehnt worden. Daraufhin habe die ukrainische Führung weitere Verhandlungen abgebrochen. Auch dieses Narrativ wird seit geraumer Zeit eifrig und ungeprüft in verschiedenen Versionen weitergetragen. Schauen wir uns auch diese Sache genauer an und fragen nach den Quellen, auf die sich solche Behauptungen stützen könnten.

Die Quellenlage

Der Blick auf die Meldungen der Nachrichtenagenturen im Zeitraum der ukrainisch-russischen Gespräche bestätigt, dass es dort keine Originalquellen für diesen behaupteten Vorgang gibt. Einzig das eher zweifelhafte „Nachrichtenportal“ Heise/telepolis, lanciert eine solche Meldung – ohne Quellenangaben.

Wesentlich ist eine ukrainische Quelle, die Anhaltspunkte für die oben genannte Erzählung bietet. In der Online Zeitung Ukrainska Prawda beschreibt Roman Romanciuk am 5. Mai unter Berufung auf Informationen aus dem engeren Kreis um Präsident Selenskyi den Gang der Gespräche recht genau (Romanciuk 2022). Er kommt dabei auf den Punkt: Die Enthüllungen über die russischen Kriegsverbrechen hätten es für die Ukrainer nahezu unmöglich gemacht, mit Putin Friedensverhandlungen zu führen. Gleichzeitig sei durch die Aufdeckung der Grausamkeiten die Zögerlichkeit „des Westens“ bei der Militärhilfe für die Ukraine beendet worden. Damit hätten sich für die Ukraine andere Perspektiven, als „Sich Ergeben müssen“, eröffnet. In dieser Situation hätte der Besuch Boris Johnson Anfang April den Gang der Ereignisse mitbestimmt. Johnson habe zwei Botschaften nach Kiew mitgebracht: „Die erste ist, Putin ist ein Verbrecher, er sollte unter Druck gesetzt werden, statt mit ihm zu verhandeln. Und die zweite ist, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, ein Agreement über (Sicherheits-)garantien zu unterschreiben, wir sind es nicht.“ Mit dieser Wendung habe er zum Ausdruck bringen wollen, dass der kollektive Westen zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Putin doch nicht so mächtig sei, wie ursprünglich angenommen und infolgedessen unter Druck gesetzt werden könnte.

Auf diesen Artikel hat ein britischer Autor Bezug genommen, der am 7. Oktober 2022 auf einer britischen Website (Eagleton 2022) erschien. Er interpretierte den Romanciuk-Text dahingehend, dass Boris Johnson am 9. April Präsident Selenskyi unter Druck gesetzt habe, nicht zu unterschreiben. Großbritannien und andere westliche Staaten seien zudem nicht bereit gewesen, die vorgesehenen Sicherheitsgarantien des Istanbul-Akkords zu verantworten.

Diesem Beitrag haben zwei Autoren an gleicher Stelle widersprochen. In einem Gespräch mit Romanciuk erklärte dieser die Interpretation Oliver Eagletons für falsch (Artiuk/Fedirko 2022). Der britische Premier - so Romaciuk - sei nicht nach Kiew gekommen, um die Beendigung der Friedensgespräche anzuordnen. Er sei nach seinem Rat gefragt worden und habe daraufhin sein Misstrauen gegenüber Putin („Kriegsverbrecher“, „Lügner“) ausgedrückt. Artiuk und Federko fügen an dieser Stelle an, dass er diese Meinung mit der Selenskyi-Führung geteilt haben dürfte, die schon aus eigener Anschauung zu dem Schluss gekommen war, dass es sehr kompliziert sein dürfte, sich auf Verabredungen mit Russland zu verlassen. Diese Aussage dürfte zutreffen. Und zu der in diesem Zusammenhang gemachten Bemerkung, Johnson habe sich nicht (als britischer Regierungschef) zur Übernahme von Sicherheitsgarantien bereit erklärt, ist zu sagen, dass dies nach den Erfahrungen mit dem durch Russland gebrochenen Budapest-Abkommen von 1994 nicht aus der Luft gegriffen ist. Dass auch andere Veröffentlichungen auf diesen Punkt abheben, muss dennoch zumindest bedenklich stimmen. Hat die britische Regierung ein doppeltes Spiel betrieben? Dazu müsste man mehr wissen, als nur Behauptungen aufzustellen.

Wir können an dieser Stelle ein Zwischenfazit ziehen:

  • Von einer Auftragsmission des innenpolitisch angeschlagenen Premiers Boris Johnson, um Friedensgespräche zu beenden, kann keine Rede sein. Dass es dazu eine Order der USA/ bzw. der NATO gegeben habe, ist eine durch nichts belegte Behauptung.
  • Möglicherweise ist Johnson, der von Selenskyi als „besonderer Freund der Ukraine“ angesehen wurde, um seine Meinung gefragt worden. Wenn die kolportierten Aussagen stimmen, so handelt es sich um Positionen, die Präsident Selenskyi nicht sonderlich beeindruckt haben dürften. Für die ukrainische Skepsis dürfte die Mehrheitsmeinung in der ukrainischen Bevölkerung, die sich nach Butscha, Irpin, Borodyanka herausgebildet hat, von größerer Bedeutung gewesen sein.

Es ist angesichts dieser Quellenlage überaus erstaunlich, dass es hochrangige Menschen gibt, die offensichtlich genau darüber Bescheid wissen, was in Istanbul auf dem Tisch lag und was zwischen Boris Johnson und Präsident Selenskyi am 9. April beredet wurde.

  • Als Bescheidwisser muss der frühere Bundeswehr Generalinspekteur Harald Kujat gelten. Der General a.D. hat der rechtsextremen Preußischen Allgemeinen (vormals Ostpreussische Zeitung) ein Interview gegeben (30.11.2022), in dem er sich auf Putin beruft, der diesen Vorgang öffentlich gemacht habe. Genaueres wissen wir nicht. Aber für Kujat ist Wladimir Putin offenkundig ein glaubwürdiger Zeuge. Kujat verweist auf zwei amerikanische Zeitschriftenartikel (Samuel Charap, in Foreign Affairs vom 1.6.2022; Anatol Lieven in Responsible Statecraft vom 22.9.2022). Zu der „Order“ Johnsons steht darin allerdings nichts! Immerhin bezieht sich Kujat auch auf den erwähnten Artikel von Romanciuk, den er wohl als eine wichtige Quelle ansieht.
  • Ein anderer Bescheidwisser ist der hochrangige, inzwischen pensionierte deutsche Diplomat von der Schulenburg (u.a. Vize-Generalsekretär der UNO!). Ohne eine einzige Quelle für seine Behauptungen zu nennen, geht er noch einen Schritt weiter und behauptet in einem Beitrag für die Online-Zeitschrift Nachdenkseiten am 11.10.22 (Schulenburg 2022), der einzige Zweck des NATO-Gipfels vom 23. März in Brüssel, sei gewesen, “die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden“. Damit sei die Marschrichtung vorgegeben worden. Nun passt dies partout nicht dazu, dass danach in Istanbul verhandelt wurde und noch weniger dazu, dass dort doch angeblich eine Einigung erreicht worden sei. Der Abbruch der Gespräche sei wohl „auf Druck der USA und des Vereinigten Königreichs“ geschehen. Seine Spekulationen begründet Schulenburg damit, die NATO habe in ihrem Gipfelkommunique von Russland den vollständigen Rückzug seiner Truppen vom ukrainischen Hoheitsgebiet gefordert. Damit sei jeglicher Kompromiss a priori torpediert worden; Verhandlungen seien daher obsolet gewesen. Ein solcher Schluss ist wahrlich kühn. Hätte die NATO stattdessen die Ukraine zum Verzicht auf die Krim und die Donbass-Region auffordern und damit den völkerrechtlichen Angriffskrieg Russlands decken sollen? Und: Die UN-Generalversammlung hat in zwei Resolutionen identische Formulierungen beschlossen. Hat also die UNO den Frieden sabotiert?

Das OnlinePortal «Die Nachdenkseiten», seit einiger Zeit verschwörungs“theoretisch“ unterwegs, hat am 4.12.2022 einen Beitrag veröffentlicht, der sich erstaunlich konkret, abwägend und differenziert mit dem Thema befasst (Krause 2023). Ob sich die Nachdenkseiten damit wieder seriöser Publizistik zuwenden wollen, darf bezweifelt werden.

Norbert Krause bezieht sich bei der Darstellung der unmittelbaren Ereignisse auch auf die hier genannten Quellen (Romanciuk, Eagleton, Artiuk und weitere) und vermeidet eine Festlegung darauf, dass Boris Johnson die ukrainische Führung unter Druck gesetzt habe, die Verhandlungen abzubrechen. Der Autor nähert sich dem Thema also betont vorsichtig. Er erwähnt auch die Pressemeldung über Johnsons Aussagen, die dieser in einem Gespräch mit Macron am 6. Mai verlautbarte: „Er (B. Johnson) sprach sich nachdrücklich gegen Verhandlungen mit Russland über Bedingungen aus, die das falsche Narrativ des Kremls über die Invasion stützen, betonte aber, dass dies eine Entscheidung der ukrainischen Regierung sei.“ Man sollte schon genau hinsehen: Die Absage an Verhandlungen ist hier an Bedingungen geknüpft, die man nachvollziehen kann. Um diesen Punkt genauer beurteilen zu können, müsste man mehr Details wissen.

Krause räumt ein, ob Johnsons Position mit den anderen westlichen Ländern abgestimmt war, sei unklar, fügt aber hinzu, dass sich möglicherweise Boris Johnson und US-Präsident Biden in einem Telefonat zwei Tage danach (!) abgestimmt hätten. Zitate, die eine solche nachträgliche (ungewöhnlich genug) Abstimmung belegen sollen, beziehen sich allesamt nicht direkt auf die Verhandlungen: Beweisführung sieht anders aus. Mit den Europäern sei diese „Linie“ („nicht weiter verhandeln“) mit Sicherheit nicht abgesprochen gewesen, so Krause weiter, hätten diese doch zur gleichen Zeit den österreichischen Bundeskanzler Nehammer in diplomatischer Mission nach Kiew und Moskau geschickt.

Krause hat seinem Artikel vorangestellt, dass er einer Publikation der Stiftung Wissenschaft und Politik (Fischer 2022) widersprechen wolle, die Russland „einseitig“ für das Scheitern der Friedensverhandlungen verantwortlich gemacht habe. Da er im Folgenden nüchtern bilanziert, dass es keine direkten Beweise für eine westliche Sabotage von Friedensverhandlungen gibt, versucht er seine These auf indirektem Weg zu begründen. Er verweist darauf, dass man den Kriegsverlauf Februar/März 2022 und die westlichen Reaktionen darauf, einbeziehen müsse. Dies ist durchaus ein wichtiger Hinweis. Inwieweit seine diesbezüglichen Einschätzungen zutreffen, ist daher kritisch zu prüfen. Krauses Ausgangspunkt: Die Wendung des Krieges Ende März/ Anfang April, auch als „Schlacht um Kiew“ überschrieben, die mit dem Rückzug der russischen Truppen endete, habe die westliche Staatengemeinschaft wie auch die Selenskyi-Regierung zu dem Schluss veranlasst, dass man den Streitkräften Putins widerstehen und gestützt auf Waffenlieferungen diese zurückdrängen könne.

Damit sei das anfängliche Motiv, verhandeln zu müssen, um ein Aufgeben zu vermeiden, entfallen. Daran, dass auch in den westlichen Medien die Botschaft verbreitet wurde, nach dem Rückzug der Truppen Russlands aus dem Norden des Landes, man könne Putin eine Niederlage beibringen, enthält durchaus Richtiges. Dies gilt auch dafür, dass die Abscheu über die Gräueltaten der Putin-Armee, die Entschlossenheit der Ukraine zum Weiterkämpfen und die internationale Solidarität mit diesem Kampf bestärkt hat.

Dennoch ist eine solche indirekte Beweisführung alles andere als zwingend. Wenn man die Vermutung darauf gründen will, dass die Ukraine und der Westen aufgrund der für sie günstigen Entwicklung auf dem Kriegsschauplatz verhandlungsunwillig geworden seien, so ist auch zu bedenken, dass es in der Woche vom 17.-23. März erhebliche Landgewinne der russischen Armee im Südosten des Landes gab. Außerdem sollte man nicht nur den 29. März 2022 als Stichtag nehmen. Dort hatte Außenminister Lawrow den Rückzug der Truppen um Kiew und die „Umgruppierung“ verkündet, um sich „auf die Befreiung des Donbas zu konzentrieren“. Die Ukraine hat am 17. Juni erklärt, nicht weiter verhandeln zu wollen. Genau in diese Zeit, Anfang April bis Juni, fällt der großflächige und rasche Vorstoß der Streitkräfte Moskaus im Donbas und darüber hinaus (Landbrücke zur Krim). Der „Militärexperte“ Jacques Baud, ein ehemaliger Schweizer Offizier, hat voller Bewunderung davon gesprochen, dieser Vormarsch hätte in Tempo und Reichweite den Blitzkrieg der Hitler-Wehrmacht bei viel geringerem Kräfteeinsatz deutlich getoppt. Interessanterweise kommen die beiden, von Krause herangezogenen Experten (Jacques Baud, Scott Ritter – von Krause verlinkt) zu dem Schluss, die Erzählung vom großen Sieg der Ukraine in der Schlacht um Kiew sei ein Mythos gewesen. Der Vorstoß nach Kiew sei eine bloß taktische Umzingelung gewesen, die darauf gerichtet gewesen sei, ukrainische Kräfte zu binden, um im Donbas voranzukommen. Der Rückzug sei, wie es Moskau verkündet hat, als Friedensangebot gedacht gewesen. Nicht nur an dieser Stelle fallen Baud und Scott Ritter vor allem dadurch auf, dass sie in den russischen Medien (Russia Today) Widerhall fanden und die Narrative Putins 1:1 bestätigen (Genozid im Donbas, Nazi-Milizen, die auch den Euromaidan organisiert haben etc.pp). Ihre Einschätzung war im April/Mai davon geprägt, dass sie das baldige Ende der ukrainischen Armee und den vollständigen Sieg Moskaus voraussagten. Expertise und Propaganda sind in diesen Texten schwer auseinander zu halten. Diese Interpretation des Kriegsgeschehens legt jedenfalls eher den Schluss nahe, dass es für den Kreml wenig Veranlassung gab, die Kriegsziele unterhalb des Sturzes der Regierung in Kiew zu korrigieren. Damit würde eher eine Lesart bestätigt, die ein russisches Desinteresse an Verhandlungen bestätigt.

Um es zu wiederholen: Die These, die Bereitschaft zu Verhandlungen sei nicht zuletzt vom Kriegsverlauf abhängig, ist nicht abwegig. Die Motive auf der jeweiligen Seite aber sind gegensätzlich: Angesichts der ausgreifenden Eroberungspolitik des Kreml im Osten des Landes sah die ukrainische Führung keinen Sinn darin, sich mit der Pistole an der Schläfe auf Friedensgespräche einzulassen. Und es scheint doch so zu sein, dass sich die Gewissheit auf der ukrainischen Seite, die Oberhand gewinnen zu können, erst mit Landgewinnen im Herbst vergangenen Jahres herauskristallisiert hat. Das hat in der Tat die Neigung zu Friedensgesprächen erst einmal gedämpft.

Diese Sicht wird durch weitere Indizien erhärtet: Präsident Selenskyi erklärte noch am 10. April, dass er trotz der Grausamkeiten der russischen Armee (Butscha, Irpin) weiter Frieden wolle. Er könne als Familienvater diejenigen verstehen, die eine tiefe Abneigung gegen die Gespräche hätten, aber als Politiker wolle er keine Gelegenheiten für eine diplomatische Lösung verpassen (Quelle: Nachrichtenagentur AP vom 10.4.22). Präsident Putin dagegen erklärte am 12. April, Kiew habe die Friedensgespräche zum Scheitern gebracht – „wegen falscher Anschuldigungen Kriegsverbrechen betreffend und weil es Sicherheitsgarantien für die ganze Ukraine verlangt hätte“ (Quelle: Nachrichtenagentur Reuters von 12.04.22). Bereits zuvor gab es entsprechende Aussagen russischer Regierungsvertreter. Am 3. April sagte Vladimir Medinski, der Leiter der russischen Verhandlungsdelegation, Russlands Haltung zum Donbas und zur Krim sei unverhandelbar und Gespräche zwischen den Präsidenten seien nicht möglich. Damit dämpfte er die Hoffnungen auf eine Einigung (Medinski 2022). Am 7. April bestätigte auch Außenminister Lawrow, dass der ukrainische Friedensvorschlag nicht akzeptable Elemente enthalte. Dabei dürfte es sich um Regelungen zu den Krim und Donbasregionen gehandelt haben und wie die Süddeutsche Zeitung vermutete, darauf, dass die Ukraine Russland kein Vetorecht bei internationalen Militärübungen auf ukrainischem Gebiet einräumen wollte (Lawrow 2022).

Das Thema, dass der Westen den greifbar nahen Frieden verhindert habe, erscheint in immer neuen Varianten. Die beiden US-amerikanischen Autor*innen Fiona Hill und Angela Stent, ausgewiesene Sicherheitsexpert*innen veröffentlichten in der September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs einen Beitrag, der sich – gespeist aus vielen Kontakten und Gesprächen in Washington – auch mit den Verhandlungen im Frühjahr 2022 beschäftigte. Der hier interessierende Passus lautete:

„Nach Angaben mehrerer ranghoher ehemaliger amerikanischer Regierungsvertreter, mit denen wir gesprochen haben, scheinen russische und ukrainische Unterhändler im April 2022 sich vorläufig auf Umrisse eines ausgehandelten Übergangsabkommens verständigt zu haben: Russland würde sich auf die Position vom 23. Februar zurückziehen, als es Teile des Donbass und die gesamte Krim kontrollierte. Und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von mehreren Staaten erhalten.“

Auch an diese Aussage hat sich das Gerücht geheftet, der Westen habe eine mögliche Übereinkunft verhindert. Der Journalist Majid Sattar hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Februar 2023 den entscheidenden Punkt aufgemacht: „Man muss nur auf „Umrisse“, „vorläufig“ und „Übergang“ verzichten sowie den politischen Kontext ausblenden, die Frage nämlich, ob Putin sich einer solchen Vereinbarung seiner Unterhändler wirklich verpflichtet gefühlt hätte – und schon ist die Basis gelegt, um den Westen anzuprangern.“ Belegt ist: Die beiden Autor*innen des Foreign-Affairs-Artikels zeigten sich fassungslos angesichts der manipulativen Interpretation ihrer Studie und haben darauf hingewiesen, dass es unmittelbar nach Erscheinen des Beitrags eine Twitter-Kampagne mit den gleichen Unterstellungen in den USA gegeben habe, die höchstwahrscheinlich Putins Propagandisten zugeschrieben werden muss. Zusätzlich betonen sie ausdrücklich, dass sich in der Zeit nach dieser vorläufigen und unvollständigen Übereinkunft neue Bedingungen ergeben hätten: Dazu zählen einmal mehr die Enthüllungen über russische Kriegsverbrechen in Butscha und der Beginn der russischen Bodenoffensive im Osten des Landes, der einen Rückzug von Putins Truppen auf die alte „Kontaktlinie“ unwahrscheinlich gemacht hätte. Beide halten im übrigen die Annahme, dass Washington keine Friedensvereinbarung gewollt habe, schlicht für gezielte Desinformation. Auch hier also das gleiche Spiel: Unwahrheiten werden mit Halbwahrheiten gemischt, Fakten, werden willkürlich interpretiert. Dieses trübe Gemisch wird von Adepten Putins immer weiter getragen, auch wenn die Behauptungen nicht zu belegen sind oder gar widerlegt wurden.
Das letzte Glied in der Kette ist ein Interview mit dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, der auf einem rechten Podcast sich viereinhalb Stunden über seine Regierungszeit auslässt. Die Meldung einer indischen Nachrichtenagentur, wonach Bennett gesagt habe, die Verhandlungen in Istanbul seien nicht erfolgreich gewesen, weil es eine (legitime) Entscheidung des Westens gewesen sei, die Bekämpfung Putins fortzusetzen, fand eine rege Verbreitung in der internationalen Medienwelt. Bennett schreibt den „aggressiveren Ansatz“ vor allem dem damaligen britischen Premier Boris Johnson zu. Der Interviewer hatte in der Tat nachgefragt, ob die USA und ihre Alliierten den Friedensprozess zwischen Moskau und Kiew blockiert hätten. Darauf antwortet Bennett: „Basically yes. They blocked it“. Er fügt hinzu, dass er nicht sagen könne, ob eine solche Entscheidung richtig oder falsch gewesen sei. Möglicherweise hätte ein Einlenken auch eine falsche Botschaft an andere Staaten ausgesandt (Bennett 2023).

Bennett hat inzwischen über Twitter versucht, die Aussagen etwas genauer einzuordnen:

„1. Es war nicht sicher, dass irgendein Deal gemacht werden konnte. Zu dieser Zeit gab ich einer Übereinkunft eine grob gesagt Fifty/Fifty-Chance. Die Amerikaner schätzten die Chance niedriger ein. Schwer zu sagen, wer Recht hatte.

2. Es war nicht klar, ob ein solcher Deal wünschenswert gewesen wäre. Damals dachte ich so, aber nur die Zeit wird es uns sagen. Ich kann Pros und Cons für jeden Ansatz erkennen.“

Nun könnte man die Sache damit auf sich beruhen lassen, aber ein klares Dementi der ursprünglichen Aussage sieht anders aus. Und hat sich Bennett vielleicht äußerem Druck gebeugt, um seine steile These etwas zu relativieren? Daher soll doch noch ein Blick auf das viereinhalbstündige Podcast-Gespräch versucht werden. Es ist indes nicht leicht, sich beim Studium des Originaldokuments zurecht zu finden. Unvollendete Sätze, keine klare chronologische Zuordnung, die Mischung aus Fakten und sehr subjektiven Bewertungen machen es schwierig, die Essenz des Textes zu erschließen. Versuchen wir eine Rekonstruktion der besonders interessierenden Aussagen:

  • Bennett ist in den Tagen nach dem Beginn des Angriffskrieges von Präsident Selensky angerufen worden, der Bennett um Vermittlungsbemühungen bat. „Es war ein Hilferuf“, so Bennett, da Selenskyi in diesen Tagen um sein Leben fürchten musste.
  • Er, Bennett, sei der ideale Mediator gewesen, wegen der besonderen Lage Israels (ukrainische und russische Einwanderung, enge Beziehungen zu den USA wegen Waffenhilfe, aber auch zu Russland, mit dem man in Nahost kooperiere) und wegen seines persönlichen Drahts zu Selenskyi und Putin.
  • Daraufhin habe er sich mit Scholz in Jerusalem getroffen, mit Macron. Johnson und Biden gesprochen und sich in dieser Phase eng mit diesen Staaten abgestimmt (die demzufolge allesamt an einer solchen Vermittlung interessiert waren).
  • In Vorbereitung von Verhandlungen, die dann in Belarus auch stattfanden, seien zwischen beiden Seiten Kompromisspapiere/Vertragsentwürfe über ihn ausgetauscht worden. Dabei hätten Selenskyi und Putin erhebliche Zugeständnisse gemacht: Selenskyi habe das Begehren auf NATO-Mitgliedschaft zurückgenommen, Putin habe die Kriegsziele „Entnazifizierung“, „Entmilitarisierung der Ukraine“ einkassiert und die Möglichkeit eines Truppenrückzugs angedeutet. Putin habe gesagt, man könne einen Waffenstillstand (sic!) erreichen. Damit kommt Bennett zu dem Schluss, dass ein Waffenstillstand in greifbare Nähe gerückt sei. In diesem Kontext fallen die oben zitierten Aussagen – die auch schon die Einschränkung enthielten, dass es möglicherweise legitim gewesen sei, weiterzukämpfen. Er fügt auch hinzu, dass die Enthüllungen über die russischen Kriegsverbrechen in Butscha die Lage gravierend verändert hätten.

Nun wäre es durchaus erhellend, sich näher mit der Selbsteinschätzung Bennetts („der Einzige, der eine Vertrauensbasis mit Putin aufbauen konnte, Erdogan ein bisschen“), mit seiner sicherheitspolitischen Expertise („vergessen Sie Sicherheitsgarantien“ - Israel als Vorbild für unabhängige Selbstverteidigung) und seiner um Neutralität bemühten Rolle als Regierungschef Israels (die Ukraine und Russland haben beide Recht) zu befassen.

Wichtiger scheint mir, was man aus dem Gespräch nicht erfährt. Was ist bspw. aus seinem Gespräch Bennetts mit Putin in Moskau am 7. März herausgekommen? Die Nachrichtenagenturen haben damals vermeldet, man habe verabredet, weiter im Gespräch zu bleiben. Die Süddeutsche Zeitung stellte knapp fest: „Einen Plan für einen Waffenstillstand hat Bennett jedenfalls nicht mitgebracht.“ Süddeutsche Zeitung 2022).Da hätte man gerne mehr gewusst.

Was wusste Bennett konkret über die Verhandlungen in Istanbul und kann er etwas sagen, woran die Verhandlungen gescheitert sind? Auf diese Phase des Krieges bezogen (also später) belässt er es bei der oben genannten Pauschalaussage von der Blockade weiterer Verhandlungen durch den Westen, die in einem weiten Sinne („in a broader sense“) verstanden werden müsse. Konkrete Belege dafür liefert er auch nicht. Aber er betont noch einmal: „Ich behaupte, dass es eine gute Chance gab, einen Waffenstillstand zu erreichen“. Auch hier lohnt es sich, genau zu lesen. Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sind nicht dasselbe. Sie hängen zusammen, insofern ein Waffenstillstand mit der tatsächlichen Eröffnung von ernsthaften Friedensgesprächen verbunden sein sollte. Mitunter geht es aber um ein ad-hoc-Interesse der Kriegsparteien in einer konkreten Phase des Krieges. Hier kann man vermuten, dass die ukrainische Seite angesichts des Vormarsches der russischen Streitkräfte im Osten und Süden des Landes an einer Waffenruhe als Option interessiert war; Russland hat in dieser Zeit über eine Umgruppierung seiner Verbände nachgedacht. Daher ist die Annahme einer Annäherung, um einen Waffenstillstand zu erreichen, nicht abwegig. Über das Zustandekommen eines Friedensvertrages ist damit noch wenig gesagt.

Um es kursorisch zusammenzufassen: Es gab angesichts der Zusammensetzung der russischen Delegation in Belarus Zweifel an der Ernsthaftigkeit Russlands zu Friedensverhandlungen, es gab die Enthüllungen über russische Kriegsverbrechen beim Abzug der Armee aus dem Großraum Kiew. Dazu begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass man den russischen Eindringlingen erfolgreichen Widerstand entgegensetzen konnte. Die vor diesem Hintergrund ansteigenden Zusagen westlicher Saaten, der Ukraine, die Waffen zu liefern, die sie für die Selbstverteidigung braucht, tat ein Übriges dazu, dass die ukrainische Führung und die mit ihr verbündete Staatenallianz, Verhandlungen wenig Chancen einräumte und auf stärkere militärische Gegenwehr setzte.

Die sich im Laufe des Jahres herausbildende Haltung der ukrainischen Regierung, auf einen Siegfrieden zu setzen, und die Tendenz in einigen westlichen Regierungen, diese Position unkritisch zu übernehmen, ist gewiss äußerst bedenklich und verdient deutlichen Widerspruch. Die Entschlossenheit der Ukraine zum legitimen Widerstand jedoch als Kriegslüsternheit zu denunzieren, ist komplett irreführend. Dies können nur diejenigen vorbringen, die die Tatsache der andauernden russischen Invasion wegwischen, und schnell dabei sind, der Selenskyi-Regierung und der NATO insgesamt die Schuld am Krieg zuzuschieben. Die Behauptung etwa, „dass nicht Russland, sondern der Westen im Frühling 2022 den Krieg weiterführen wollte“ (Erler 2023), ist nur nachzuvollziehen, wenn man konsequent ignoriert, dass es die Putin-Regierung war, die nach den Verhandlungen ukrainisches Territorium im Süden und Ostern besetzt bzw. geraubt hat, die mit den Angriffen auf die komplette Infrastruktur des Landes sich terroristischer Kriegführung bedient und damit die Ukraine zur Unterwerfung unter ihre imperialen Interessen zwingen will. Oder handelt es sich dabei nur um eine Spezialoperation gegen die von außen gelenkte extremistische Regierung in Kiew, die schon damals partout nicht einlenken wollte? Das hat man woanders auch schon gehört.

Der springende Punkt bleibt: Die Weigerung Russlands, seine Aggression zu beenden, die Truppen zurückzuziehen und das Recht der Ukraine auf territoriale Unversehrtheit anzuerkennen, ist bis heute die Klippe für einen fairen Verhandlungsprozess. Genau dies musste auch der italienische Ministerpräsident Draghi bezüglich der italienischen Friedensinitiative vom Mai 2022 feststellen (bei Krause nachzulesen). Er erklärte, Gespräche mit Putin seien „Zeitverschwendung“, weil die russische Führung nicht von ihrer Position abrücke, dass die Krim und der Donbas nicht Teil der Ukraine seien. Die Formel des Kreml lautet in zahllosen Erklärungen seitdem: Friedensverhandlungen Ja, aber zu unseren Bedingungen. Und: Von den Ergebnissen unserer Militäroperation (Annexion) rücken wir nicht ab. Ein Friede aber, der nicht die Grundlagen des Völkerrechts beachtet und stattdessen das Recht der Stärkeren bestätigt, lädt ein zu weiteren Angriffskriegen. Ohne die eindeutig erkennbare Bereitschaft Moskaus, die Truppen zurückzuziehen und die Annexionen zu widerrufen, wird es schwierig bis unmöglich sein, zu einem ausgehandelten Frieden zu kommen. Appelle zu bedingungslosen Friedensverhandlungen werden demzufolge aller Voraussicht nach ins Leere gehen. Was wiederum nicht bedeutet, dass es nicht vermehrte diplomatische Bemühungen geben sollte, wie zuletzt von Jürgen Habermas (Habermas 2023) zu Recht angemahnt.
Es sollte grundsätzlich bedacht werden: Niemand mehr als die Ukrainer*innen, die die Hauptfolgen des Krieges zu tragen haben, sind an einer schnellen Beendigung des Krieges interessiert. Warum sollte man sich Gesprächen über einen raschen Friedensschluss verweigern? Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan hat dies in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eindrucksvoll dargelegt (Zhadan 2022). Allerdings: Das Misstrauen gegen Putins Russland sitzt tief und es ist gut begründet. Und man möchte einen Frieden, der hält und gerecht ist.

Literatur

Artiukh, Volodymyr, Ferdiko, Taras (2022): No, the West Didn`t Halt Ukraine`s Peace Talks. 17. Oktober 2022. https://novaramedia.com. Abgefragt am 06.01.2023

Bennett (2023): Gespräch mit Naftali Bennett unter: https://www.youtube.com/watch?v=qK9tLDeWBzs

Eagleton, Oliver (2022): Liz Truss Doesn`t Car About Stopping the War. 7. Oktober 2022. Novara Media. Abgefragt am 06.01.2023

Erler, Petra (2023): Kriegsbeginn und Sabotage des Friedens, in: Beueler Extradienst, 10.2.2023

Fischer, Sabine (2022): Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission indossable, SWP-Aktuell vom 28.10.2022

Habermas, Jürgen (2023): Ein Plädoyer für Verhandlungen. In: Süddeutsche Zeitung vom 15. Februar 2023

Hill, Fiona/ Stent, Angela, The World Putin Wants, in: Foreign Affairs, Sept. Okt. 2022

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Hinweis: Eine genaue Chronologie der Gespräche ist bei wikipedia unter „Russisch-ukrainische Friedensverhandlungen seit 2022“ zu finden.