Friedens- & Sicherheitspolitik

Die Debatte über die nukleare Teilhabe Deutschlands fortsetzen!

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Das Thema fortgesetzter nuklearer Teilhabe Deutschland scheint mit der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers vom 27. Februar politisch geklärt. Olaf Scholz kündigte die Beschaffung von 35 F-35-Flugzeugen der USA an, die den TORNADOS der Bundesluftwaffe als Trägermittel für US-Atombomben nachfolgen sollen. Der Zulauf ist ab 2026 geplant.

Im Januar hatte die Bundesregierung noch einen Prüfauftrag für den Kauf dieser Waffensysteme erteilt. Es überrascht, in welchem Tempo dieser Auftrag abgearbeitet sein soll. Bis zu diesem Zeitpunkt galt auch, dass eine ausführlichere Debatte über die Ratio der nuklearen Teilhabe unausweichlich, zumindest erwünscht sei. Nun werden per Ukas die Instrumente bereitgestellt, die die deutsche Beteiligung an der atomaren Abschreckungsstrategie der NATO gewährleisten sollen. Die definitive Bestellung der US-Flugzeuge bedeutet zugleich, dass wichtige rüstungskontroll- und abrüstungspolitische Vorschläge des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich ad acta gelegt wurden. Mützenich hatte angeregt, die Zeit bis zu einer endgültigen Beschaffungsentscheidung für einen breiter angelegten Diskussionsprozessüber Rüstungskontrolle zwischen NATO und Russland zu nutzen. Um das dafür nötige konstruktive Klima zu schaffen, sollte ein Moratorium bei der Entwicklung und Bereitstellung neuer atomarer Waffensysteme vereinbart werden. Dieses Ansinnen scheint unter dem Vorzeichen des Putin`schen Angriffskrieges auf die Ukraine abgeräumt.

Nicht zuletzt die ungeheuerlichen Drohungen Moskaus über nicht gekannte Vergeltungsmaßnahmen gegen das Eingreifen Dritter in den Ukraine-Krieg hat diese Hals-über-Kopf-Entscheidung der Bundesregierung plausibel werden lassen. Wobei angemerkt werden sollte, dass diese Rüstungsmaßnahme gegen die akuten russischen Bedrohungen in absehbarer Zeit, sprich: die nächsten fünf Jahre, nicht helfen werden. Grundsätzlich aber ist zu fragen: Sind mit der Entscheidung der Bundesregierung die gravierenden Einwände gegen diese Atomwaffen und die zugrunde liegende US/NATO-Strategie obsolet geworden? Und was bedeutet dies für die künftige Rolle Deutschlands im Bereich nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung? Genauer: Wie will die Ampelkoalition agieren, um den Nichtverbreitungsvertrag (NPT) zu stärken und weiter zu entwickeln? Wie will sie sich zu dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) verhalten, den die UN-Vollversammlung am 7. Juli 2017 mit 122 Stimmen angenommen hat, der inzwischen von 86 Staaten unterzeichnet und von 66 Staaten ratifiziert worden ist?

Friedensforschung, Friedensbewegung und fortschrittliche Politik sind aufgefordert, die Schockstarre nach der „Zeitenwende-Rede“ zu überwinden und neue Überlegungen - wider die Unausweichlichkeit dieser Entscheidung - für eine De-Eskalations- und Abrüstungspolitik in die Öffentlichkeit zu bringen. Im folgenden können dazu nur erste Anregungen vorgelegt werden, in denen natürlich die veränderten Rahmenbedingungen zu reflektieren sind.

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Die Beschaffung der Tornado-Nachfolge mag als bloßes Kontinuum der bisherigen Politik, als Fortschreibung des status quo erscheinen. Diese Sicht der Dinge ist falsch. Die vorgenommene „Modernisierung“ der B-61 Atomsprengköpfe, i.e. ihre Spezifizierung für präzisere, begrenztere Einsätze, die auch als „Taylorisierung“ der Atomwaffen kürzerer Reichweite bezeichnet werden kann (siehe dazu: Otfried Nassauer, Die Zukunft der nuklearen Teilhabe, in: Wissenschaft und Frieden 4/2020), bedeutet nichts Anderes, dass die Hemmschwelle zum Einsatz dieser Waffen gesenkt wird. Es erscheint überaus problematisch, dass mit der bedingungslosen Zustimmung der Bundesregierung zu dieser „Nachrüstung“, schon die bisherige Problematisierung dieser Waffenentwicklung – von Widerstand wollen wir gar nicht reden - ad acta gelegt scheint. Außenministerin Annalena Baerbock hat diese Wendung deutscher Außenpolitik bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie mit den Worten „Die nukleare Abschreckung der NATO muss glaubhaft bleiben.“ begründet. Hinzugefügt hat sie, dass man zur Abrüstung „nicht mit einseitigen Forderungen an unsere westlichen Bündnispartner“ weiterkomme.

Daran knüpfen sich grundsätzliche Fragen: -

  • Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass zur glaubhaften Abschreckung gehört, dass man die taktischen, substrategischen Atomwaffen auch für tatsächliche, vorgeblich begrenzte Einsatzszenarien „fit machen“, bzw. bereithalten müsse?
  • Zweitens: Heißt das, dass man nationale Sicherheitsinteressen, die ggf. nicht identisch mit den Interessen anderer Bündnispartner sein können, nicht mehr auf die Agenda bringen sollte? Also auch auf Dauer darauf zu verzichten, den USA den Abzug der in Büchel gelagerten Atombomben nahezulegen?!
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Der bisherige Einwand gegen die taktischen Waffen in Europa lautete, dass auch diese mitunter als „Mini-Nukes“ verharmlosten Waffensysteme eine solche zerstörerische Wirkung - gerade auf dem verhältnismäßig dicht besiedelten europäischen Kontinent – entfalten, dass deren Einsatz nicht verantwortbar wäre. Ist es nicht nach wie vor so, dass deren Einsatz mit dem folgerichtigen Einsatz noch effektiverer Atomwaffen, also mit einer „Eskalationsdominanz“ beantwortet werden würde? Im Kontext militärischer Doktrinen, die diese Einsatzszenarien vorsehen, lautet der Vorsatz dann: „Escalate to De-Escalate“. Waffentechnologische Überlegenheit wird in dieser Philosophie mit dem gegenteiligen Effekt verbunden. Die Drohung allein soll das Einlenken des Gegners bewirken. Garantien dafür gibt es keineswegs. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund der potenziellen Zerstörungswirkung dieser Waffen können solche Strategien/Doktrinen nur als Spiel mit dem Feuer, genauer: als Wandel am Abgrund der Selbstvernichtung bezeichnet werden. Die der entsprechenden Strategie zugrunde liegende Vorstellung, die Regierenden aller Länder ließen sich ausschließlich von rationalen Erwägungen leiten, erscheint zudem als allzu kühn.

Daher darf es nicht sein, dass mit der „Zeitenwende-Rede“ die überfällige Debatte über diese Nuklearstrategien (welcher Seite auch immer) de facto beendet sein sollte. Nein, sie muss weitergeführt werden.

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Die grundsätzlichen Einwände gegen die Doktrin nuklearer Abschreckung bleiben also bestehen: Ein „Schutzschirm“, der das Risiko globaler Selbstzerstörung in Kauf nimmt, hat diesen Namen nicht verdient. Peter Rudolf, Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik hat in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 29. August 2022 dazu Richtiges festgehalten: „Die zentrale Frage … ist, wie sich Atomwaffenstaaten in einer ernsten Krise tatsächlich verhalten und ob es zu einer nicht mehr beherrschbaren Zuspitzung kommt. Wenn einmal ein Seite Nuklearwaffen einsetzt, was macht dann die andere Seite? Lässt sich ein Atomkrieg, wenn er einmal begonnen wurde, begrenzen oder nicht? Darauf haben Nuklearstrategen keine wirkliche Antwort.“ Schon allein die mit diesen Fragen benannten Risiken lassen die Strategie nuklearer Abschreckung als überaus fragwürdig, oder genauer: als ethisch und politisch-praktisch inakzeptabel erscheinen. Daher muss die Frage auf den Tisch: Wird diese Problematik im Zuge der angekündigten öffentlichen Diskussionen über eine neue nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik thematisiert werden oder nicht?

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Es wäre auch fahrlässig, den veränderten Hintergrund des neuerlichen Ost-West-Konflikts in diesem Zusammenhang zu übersehen. Gemeint ist damit nicht zuletzt, dass die bestehende sicherheitspolitische Rahmung durch Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen weitgehend erodiert ist. Hier ist nicht zuletzt an die beidseitige Aufkündigung des INF-Vertrages („Null-Lösung“) zu denken. Damit gibt es in dieser Hinsicht keinerlei Haltepunkte mehr und das Feld für „Nachrüstungen“ aller Art ist damit aufgemacht. Konkret scheint besonders bedrohlich, dass die russische Föderation neue Raketen in Kaliningrad bereitstellt. Dabei spielt auch die auf den Weg gebrachte Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO eine Rolle. Die damit verbundenen Gefahren haben auch damit zu tun, dass man weder genau weiß, wie die Reichweite der Iskander-Raketen sein wird, noch, ob sie mit nuklearen oder konventionellen Sprengköpfen bestückt sind. Auch hier zeigt sich, wie wichtig Schritte der wechselseitigen Transparenz, der Vertrauensbildung zwischen den Rüstungsblöcken wären. Nun erscheinen Vorschläge für die Aufnahme neuer Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen (INF) und die Systeme kürzerer Reichweite (SRBM`s) gegenwärtig in weiter Ferne zu liegen. Gerade daher ist daran zu erinnern, dass der zwischen den USA und Russland ausgehandelte New START-Vertrag über die strategischen Systeme 2026 ausläuft. Es ist im elementaren Interesse beider Staaten, dass eine Verlängerung, ggf. Neufassung möglichst bald ausverhandelt wird trotz Ukraine-Krieg. Es wäre äußerst hilfreich, wenn eine Übereinkunft vor den nächsten US-Präsidentschaftswahlen zustande käme. Was kann die Regierung in Berlin tun? Sie sollte sich dafür stark machen, dass die Europäische Union die START-Verhandlungen energisch unterstützt und auf eine Vereinbarung drängt. Ein solcher Vertrag, wenn er zustande käme, könnte dann genutzt werden, um ein neues Forum für die ballistischen Raketen kürzerer Reichweite zu schaffen. Um hier voranzukommen, sollte die Bundesregierung auch daraufhin wirken, dass sich die NATO diesbezügliche Vorschläge Russlands genauer ansieht. Das wäre besser, als diese immer wieder ungeprüft zu verwerfen. Eigene NATO-Vorschläge liegen jedenfalls nicht auf dem Tisch.

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Dass die aggressive, imperiale Politik des Putin-Regimes die Europäische Sicherheitsordnung, die insbesondere in der Charta von Paris beschrieben wurde, empfindlich bedroht, liegt auf der Hand. Gleichzeitig wäre es ein Fehler, die Augen davor zu verschließen, dass der dadurch heute schon ausgelöste Rüstungswettlauf auch per se erhebliche Gefahren mit sich bringt. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hatte vor nicht allzu langer Zeit in einem Grundsatzbeitrag gewarnt: „Die zunehmende geopolitische Konkurrenz zwischen den Atomwaffenstaaten, die Entwicklung neuartiger Waffen, die Verkoppelung konventioneller und nuklearer Abschreckungspotenziale und die anhaltende Modernisierung und Diversifizierung von Nuklearwaffenarsenalen führen zu neuen Rüstungswettläufen. Sie stellen eine konkrete Bedrohung für Deutschland und Europa dar.“ (Rolf Mützenich, Deutschland und die nukleare Teilhabe. Plädoyer für eine notwendige und ehrliche sicherheitspolitische Debatte. In: ipg-Journal, 07.05.2020). Er hat dies mit einem nützlichen Hinweis verbunden: Selbst wenn man an die Notwendigkeit nuklearer Abschreckung glaube, werde diese durch die US-Interkontinentalraketen, die US-Bomberflotte und nuklear bestückte U-Bootflotte garantiert. Gerade der Hinweis auf die Verlagerung nuklearer Potenziale auf die Seestreitkräfte ist hier angebracht.
Ist diese zentrale Problemstellung eines global bedrohlichen atomaren Rüstungswettlaufs durch den Angriff Russlands auf die Ukraine hinfällig geworden? Bleibt uns nur die Alternative der Aufrüstung gegenüber Russland, die auch die nuklearen Arsenale umfasst? Zugespitzt: Wie kann es verantwortet werden, die Bundesrepublik Deutschland auf eine lange Phase groß dimensionierter Aufrüstung einzustellen – ohne dass Vorschläge zur Rüstungskontrolle unterbreitet bzw. weiterverfolgt werden?

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Man kann heute Rüstungsfragen nicht mehr seriös diskutieren, wenn man die Ressourcenproblematik außen vor lässt. Wie viele volkswirtschaftliche, technologische, gesellschaftliche Ressourcen werden durch den dramatischen Aufwuchs der Militärausgaben absorbiert? Dass ein solcher als Fehlallokation zu bezeichnender Ressourcenverbrauch gegenwärtig eine neue Brisanz erlangt hat, ist unschwer zu erkennen. Der Krieg in der Ukraine hat große Teile des Erdballs in Mitleidenschaft gezogen. Ernährungskrise, Engpässe der Energieversorgung, Zunahme der Pauperisierung und des sozialen Elends seien als Stichworte genannt. Die Befunde der Klimaforschung sind unerbittlich: In diesem Jahrzehnt müssen entscheidende Schritte der Dekarbonisierung erzielt werden, wenn wir die kategorischen Klimaziele erfüllen wollen. Dies bedeutet auch, dass ein zeitlicher Aufschub für die sozialökologische Transformation nicht zu verantworten ist. Diese Überlegung muss auch der Betrachtung über die künftigen Rüstungsaufwendungen zugrunde gelegt werden.

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Außenministerin Baerbock hat auf der Tagung zur nationalen Sicherheitsstrategie erklärt: „Dennoch (F-35-Beschaffung) gilt: Unser Ziel bleibt eine nuklearwaffenfreie Welt. Über dieses Ziel wollen wir mit unseren Partnern sprechen – im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrages. Aber auch als Beobachter mit den Mitgliedern des Atomwaffenverbotsvertrages.“ Der an dieser Stelle angefügte Satz, „Echte Abrüstungsschritte wird es nur geben, wenn alle Nuklearwaffen-Staaten glaubhafte Schritte unternehmen“, ist überaus trivial und beantwortet nicht die Frage, wie man in diesem Rahmen weiterkommen will. Aus der Tatsache, dass die A-Waffen-Besitzer die Auflage des NPT-Vertrages Artikel VI zu ernsthaften Abrüstungsverhandlungen bis dato (d.h. schon sehr lange) überwiegend torpedieren, hat eine Koalition der Willigen im Rahmen der Vereinten Nationen den Schluss gezogen, dass man nicht länger auf deren Initiative warten könne, sondern endlich vorangehen müsse. Die Absicht war und bleibt, den Druck auf die Kernwaffen-Mächte durch praktische Schritte statt hohl gewordener Rhetorik zu erhöhen. Das Ergebnis war der bereits erwähnte Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), mit dem Bewegung in die festgefahrenen Positionen der Atommächte gebracht werden soll. Der Druck auf die Atomwaffenstaaten würde durch die Beteiligung weiterer Staaten am AVV erhöht werden; die Nichtzeichnung dagegen stützt den Status Quo. Dies gilt gerade für ein wichtiges UN-Mitgliedsland wie der Bundesrepublik Deutschland, die sich entscheiden muss, wie sie ihre Verantwortung wahrnehmen will.

Fakt ist: Deutschland kann dem AVV, unter der Maßgabe, die nukleare Teilhabe fortzusetzen, nicht beitreten. Die Bundesregierung hat dies in Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag am 24.06.2022 entsprechend formuliert. Sie hat dort niedergelegt, dass sie stattdessen den NPT als universell gültigen (also über die Atomwaffenstaaten hinausgehenden) völkerrechtlichen Rahmen für den geeigneteren Ansatz hält, um abrüstungspolitisch vorankommen zu können. Wie sich dies vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrung begründen lässt, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung. Zu fragen ist, ob selbst der bisweilen formulierte Anspruch, zwischen den NPT- und den AVV-Staaten vermitteln zu wollen, um etwas bewegen zu können, nicht durch die Festlegungen zur nuklearen Teilhabe Deutschlands hinfällig geworden ist. Die Aussagen der Außenministerin wirken hier vielmehr als Placebo für die kritische Öffentlichkeit. Oder handelt es sich um Wunschdenken und Selbsttäuschung?

Wir werden kritisch nachfragen müssen: In welchem Rahmen, wann, mit wem sollen diese Gespräche stattfinden? Welche konkreten Vorstellungen gibt es darüber in der Regierung? Welche praktischen Initiativen sollen ergriffen werden? Auch diese Fragen sollten von uns in die Debatte um die nationale Sicherheitsstrategie eingebracht werden.


Paul Schäfer, Köln, 15.12.2022