Friedens- & Sicherheitspolitik

Friedenspolitik nach der Zeitenwende: Zeit, Klartext zu reden

Wir werden Widersprüche aushalten müssen

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Die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers am 27.02.2022 war ein Schock. Die Ankündigung eines 100 Milliarden-Sondervermögens für militärische Ausgaben und einer dauerhaften Anhebung der Militärausgaben auf über 2% des BIP standen für eine radikale Wende deutscher Sicherheitspolitik. Gängige Positionen einer auf Frieden, Entspannung und Abrüstung gerichteten Außenpolitik wurden über Nacht ad acta gelegt. Politiker, die früher mit dem unschönen Begriff „Stahlhelmer“ belegt worden waren, Anhänger der sog. realistischen Denkschule und Medienvertreter, sahen sich in ihrer Annahme bestätigt, dass man allen „Schurken“ dieser Welt nur mit Gewalt begegnen und die eigenen Interessen nur mittels militärischer Stärke durchsetzen könne. Dieses Szenario hat sich seitdem weiter verdüstert. Neue Waffenfabriken, die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht, Phantasien über eine nuklear ausgerüstete Europäische Union – all das hat die Menschen verunsichert und ihnen Angst gemacht. Gleichzeitig ergeben Meinungsumfragen, dass eine große Mehrheit dafür ist, dass wir uns in einer zusehends friedloseren Welt wappnen und wehrhaft machen müssen.

Die Zeitenwende traf auf eine „weitgehend pazifizierte Zivilgesellschaft“1, die sich in ihrer Skepsis gegenüber militärischer Gewalt durch die missratenen Auslandseinsätze der Bundeswehr lange Zeit bestätigt sehen durfte. Das linke Spektrum der Politik und die Friedensbewegung reagierten entweder konsterniert oder mit der trutzigen Behauptung, die altbewährten Grundsatzpositionen seien mit dem „Kalten Krieg 2.0.“ aktueller denn je. Und es ist tatsächlich schwer zu verarbeiten, dass nahezu alle Parteien und Medien eine Anhebung der Wehrausgaben auf 2% des Bruttoinlandsprodukts und mehr für selbstverständlich halten und in der Öffentlichkeit beständig nach noch mehr Waffen und Soldaten gerufen wird. Es ist überdies schwer zu ertragen, wenn diejenigen, die zu gründlicheren Abwägungsprozessen raten, als „naiv“ verächtlich gemacht und stigmatisiert werden.

Dass gerade die gesellschaftliche und politische Linke durch den russischen Angriff in größte Schwierigkeiten gestürzt wurde, ist unübersehbar. Ein Zufall ist es nicht. Man sah sich als die „Friedenspartei“, die auf der richtigen Seite der Geschichte steht und die in der deutschen Bevölkerung meist einen guten Resonanzboden fand. Nun ist man in schweres Wasser geraten, worüber auch Demonstrationen mit der Beteiligung von mehreren tausend Teilnehmer*innen nicht hinwegtäuschen können. Klar scheint nur: Die Hoffnung, dass der Spuk möglichst rasch vorbeigehen möge, wird Wunschdenken bleiben. Die „Zeitenwende“ und Folgen wird uns noch länger um den Schlaf bringen. Aber wie kann eine eigenständige friedenspolitische Positionierung in diesen schwierigen Zeiten überhaupt aussehen? Wie kann man dem Aufrüstungshype hierzulande entgehen, zugleich aber glaubwürdig den ukrainischen Unabhängigkeitskampf unterstützen? Wie kann man die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen aufgreifen, ohne der rigiden Kriegsrhetorik zu verfallen? Worüber müssen wir weiter nachdenken und debattieren?

Eine Warnung vorab: Wir werden Widersprüche aushalten müssen.

Gliederung:

1. Der Ukraine Krieg als historische Zäsur

2. Kalter Krieg damals und heute

3. Annäherung an die Realität: Ein neuer Faschismus?

4. Der Anteil des Westens an der russischen Entwicklung

5. Die aus den Fugen geratene Welt

6. Kampf um zivilisatorische Werte und Institutionen

7. Nüchterne Bedrohungsanalyse notwendig

8. Neue Qualität: Die russische Aufrüstung

9. Ja zum Selbstverteidigungsrecht der Ukraine

10. Ohne Waffenlieferungen bleibt nur die Kapitulation

11. Zu grobes Raster: Siegfrieden oder Niederlage

12. Die Möglichkeiten der Diplomatie realistisch einschätzen

13. (K)eine gute Idee: Den bewaffneten Konflikt „einfrieren“?

14. „Regime Change“ oder Gegenmachtbildung?

15. Containment statt Appeasement

16. Ausreichende Landesverteidigung für Frieden unverzichtbar

17. Proeuropäisch denken: EU und Weltpolitik

18. Konturen einer EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik

19. Friedens- und sicherheitspolitische Alternativen

1. Der Ukraine-Krieg als historische Zäsur

Die oft bemühte Wendung, im Februar 2022 sei der Krieg nach Europa zurückgekehrt, ist nicht richtig. Mit den Bürgerkriegen auf dem Balkan in den 90er Jahren wurden Konflikte erstmals nach 1945 auf europäischem Boden wieder kriegerisch ausgetragen. Damals wie heute wurde das Völkerrecht verletzt (v.a. durch den NATO-Luftkrieg gegen Serbien). Aber: Es waren Kriege, die überwiegend mit Handfeuerwaffen und leichtem Kriegsgerät geführt wurden; erst die NATO-Intervention brachte Hightech-Waffen zum Einsatz. Diese Machtasymmetrie machte es möglich, Kriege relativ rasch militärisch - nicht politisch - beendet werden. Zu bedenken ist auch: Das Eingreifen von außen war zu keinem Zeitpunkt auf eine dauerhafte Besetzung eines Landes oder die Auslöschung eigenständiger staatlicher Existenz gerichtet. Dennoch hat das Motiv, einen autokratischen Präsidenten, der einen verloren gehenden Herrschaftsbereich zurückholen wollte, in die Schranken zu weisen, nicht die Bombardierungen Rest-Jugoslawiens legitimieren oder rechtfertigen können.

Insgesamt wird man zu dem Schluss kommen: Die Dinge liegen heute anders. Die zweitstärkste Nuklearmacht der Erde greift den flächenmäßig zweitgrößten Staat Europas an, um sich einen nicht kleinen Teil dieses Landes einzuverleiben und dort eine ihr wohlgesonnene Quisling-Regierung zu etablieren. Einen solchen Bruch des Völkerrechts hatte es in Europa nach 1945 nicht mehr gegeben. Die Unterstützung der angegriffenen Ukraine durch die NATO und weitere Staaten führte dazu, dass sich zwei Streitkräfte gegenüber stehen, die über modernste Waffentechnik verfügen und dies auch einsetzen. Das Risiko einer unmittelbaren Konfrontation zwischen NATO und Russland ist hoch, der Einsatz von Atomwaffen nicht gänzlich auszuschließen. Die Auswirkungen dieses Krieges sind nicht regional begrenzt. Das Problem ausbleibender Getreidelieferungen machte sich an verschiedenen Ecken des Globus drastisch bemerkbar; die mit dem Krieg verschärften Sanktionsregime betreffen die gesamte Weltwirtschaft. Preissteigerungen bei lebenswichtigen Produkten bedeuten für die Entwicklungsländer eben auch höhere Verschuldung. Daher müssen sich nolens volens auch diejenigen im globalen Süden, die von einem „europäischen Krieg“ sprechen, um damit ihre Distanz und Indifferenz auszudrücken, mit diesem Thema auseinandersetzen. In den Gremien der Vereinten Nationen müssen sie Farbe bekennen. Die Frage, wie dieser Krieg endet, entscheidet schließlich mit darüber, wie sich die internationalen Beziehungen in diesem Jahrzehnt entwickeln werden.

Dass wir es mit einer einschneidenden politischen Zäsur in Europa und darüber hinaus zu tun haben, ist zwei Jahre nach dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022 offensichtlich. Nach historischen Vergleichen wird gesucht. Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel versucht die gegenwärtige dramatische Entwicklung verstehbar zu machen, indem er auf Analogien zur Machtergreifung Hitlers, zum Mauerbau und der Kubakrise in den sechziger Jahren oder dem nach den Anschlägen von 9/11 ausgerufenen „War on Terror“ verweist.2 . Letzteres ist schnell geklärt. Der Hinweis auf den „Krieg gegen den Terror“ ist nicht verkehrt. Man denke nur an die damals aufgebrachte Redewendung: „Nine Eleven hat alles verändert“. In der Tat wurden nach den Terrorattacken in New York und Washington drei Kriege/ Militärinterventionen angefangen, die zu erheblichen Verwerfungen der internationalen Politik geführt haben und einschneidende Änderungen in der Innenpolitik sehr vieler Länder nach sich zogen. Eine friedlichere Welt wurde nicht erreicht, im Gegenteil. Dieses Ereignis wirkt nach bis heute.

2. Kalter Krieg damals und heute

Der Hinweis auf die Krisenjahre 1961/62 scheint besonders naheliegend zu sein. Der Kalte Krieg erreichte seinen Höhepunkt, die Welt stand am Abgrund. Aber es gab verantwortungsbewusste Politiker, die auf dem Wege des Kompromisses die Gefahr abwenden konnten. Und was wesentlicher ist: Es entwickelte sich die Einsicht, dass es im Nuklearzeitalter auf globaler Ebene nur Gemeinsame Sicherheit geben kann. Egon Bahr, einer der Väter der Entspannungspolitik der 70er Jahre, hat geschildert, wie der Mauerbau Überlegungen befeuerte, dass ein Interessenausgleich auf der Basis der Anerkennung des territorialen Status Quo möglich sein sollte.3 In der NATO setzte sich mit dem Harmel-Report die Auffassung durch, dass militärische Abschreckung mit Schritten zur Vertrauensbildung und der Kooperation ergänzt werden müsste. Die friedliche Koexistenz zwischen den verfeindeten Blöcken sollte auch Wege zur Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung eröffnen.

Ausgangspunkt, um die schroffe Konfrontationspolitik zu beenden, war die Anerkennung der nach 1945 entstandenen Staatsgrenzen, die schließlich in der Übereinkunft der KSZE 1975 festgeschrieben wurde! Auf dieser Grundlage wurde vieles möglich. Stellvertreterkriege in der sog. Dritten Welt gab es weiterhin, aber zwischen den Blöcken war Entspannung angesagt. Nota bene: Substantielle Abrüstung bei den konventionellen Streitkräften wurde nach Jahren der Stagnation (MBFR-Verhandlungen) erst durch die politischen Umwälzungen in Moskau (Gorbatschow) möglich. Auch das wird man im Auge behalten müssen.

Heute haben wir es zu tun mit einem heißen Krieg zwischen einer offen revisionistischen Macht, die einen Weltmachtanspruch geltend machen möchte, die die Souveränität von Nachbarstaaten missachtet und dabei die gewaltsame Veränderung völkerrechtlich anerkannter Grenzen nicht scheut, und einem ziemlich hoch gerüsteten Land, das mit der NATO im Bunde steht. Aus der Status Quo orientierten und in diesem Rahmen kooperationsbereiten UdSSR ist ein Regime geworden, das wider die Fakten großrussischen Phantasien nachhängt und die Wiederherstellung des alten Weltmachtstatus mit allen Mitteln erreichen will. Dazu gehört auch die Schaffung von Einflusszonen, die die Aushebelung demokratischer Regierungsformen zugunsten autoritärer Herrschaft einschließt.4

So zu tun, als hätten wir es noch mit der grundsätzlich friedlichen, zurückhaltenden Sowjetunion zu tun, mit der man sich nur an den Verhandlungstisch setzen müsse, geht an der heutigen Welt vorbei. Die schlichte Leugnung des „post-imperialen Habitus“ Russlands, ist wohlfeil, aber wirklichkeitsfremd. Vielmehr ist die Frage zu beantworten, wie die imperialistische Politik des Putin-Regimes so eingehegt werden kann, dass sich daraus wieder Verständigungsmöglichkeiten auf diplomatischem Weg und konstruktive Kooperationsbeziehungen ergeben.

3. Annäherungen an die Realität: Ein neuer Faschismus?

Die Hitler-Analogie scheint zu dem heute gern bemühten Bild eines globalen Ordnungskonflikts zwischen demokratischen und autoritären bis faschistischen Staaten zu passen. Aber Putin ist nicht Hitler. Die Putin-Partei Einiges Russland ist nicht die NSDAP. Putin nennt als seine geistigen Vorbilder den „weißen General“ Denikin, Intellektuelle wie Alexandr Solschenizyn oder Ivan Ilyin. Ihnen gemein ist der Glaube an eine (ost)slawisch und religiös-orthodox fundierte russische Nation, zu der Russland, Belarus, die Ukraine, aber auch Teile Kasachastan unbedingt zugehörig sind. Auch Anhängern eines weit gespannten “Eurasien“-Projekts, in dessen Mittelpunkt die Russische Föderation stehen sollte, wie Alexander Dugin, wird Einfluss auf Putins Denken zugeschrieben. Der großen russischen Nation kommt in diesen Denkrichtungen eine besondere historische Mission gegen die dekadente westliche Zivilisation zu. Unter Putins Mentoren sind auch solche, die die Nazis bewunderten.5 Dennoch wird man vorsichtig formulieren müssen. Der ideologische Standort ist mit Begriffen wie nationalistisch-imperial, autoritär, autokratisch, gewaltbereit ausreichend beschrieben; der Fanatismus der Nazis scheint noch einen Schritt entfernt.

Vor allem gilt eins: Ein russischer Griff nach der Weltmacht ist in der heutigen Welt ebenso wenig vorstellbar, wie umgekehrt die unipolare Herrschaft der USA. Aber nicht zu übersehen: Dass sich positiv auf den autokratischen Putin beziehende Lager umfasst die Weltmacht China, Mitglieder der BRICS-Staatengruppe, aber inzwischen auch ultrarechte Parteien in der entwickelten kapitalistischen Welt und Sympathisanten in autoritär verfassten Ländern rund um den Globus. Auch wenn ein monolithischer Machtblock extrem reaktionärer Kräfte heute nur schwer vorstellbar ist, sollte man die Gefahren einer globalen Rechtsdrift nicht unterschätzen.

Das führt zu der Frage, die uns interessieren muss: Handelt es sich bei diesen ultrarechten Strömungen. die sich teilweise doch beträchtlich unterscheiden, um einen neuen Faschismus?6 Richtig ist: Den Faschismus gibt es nicht. Es handelt sich um nach Raum und Zeit zu unterscheidende Ordnungssysteme, die unterschiedlich ausgeprägt sein können. Bestimmte gemeinsame Merkmale sind gleichwohl unverkennbar: Die Fixierung auf den großen Führer, das hassgeprägte Freund-Feind-Denken – heute insbesondere gegen die Migrant*innen und kulturell anders orientierte Menschen (Feministinnen, LGTBQ), die Sortierung der Welt nach ausschließlich ethnisch-nationalen, ggf. nach religiösen Gesichtspunkten, pathologisch anmutende Selbstinszenierungen als Opfer der Geschichte und einer bösen Umwelt, Wut auf die repräsentativ-demokratischen und rechtstaatlichen Institutionen, die Sehnsucht nach guten, alten Zeiten, in denen noch Ordnung herrschte und das „eigene“ Land noch etwas galt, die Bereitschaft, diese Ziele auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Die soziale Basis solcher Bewegungen ist über die Jahrzehnte im Grundsatz gleich geblieben. Der Faschismus sammelt die Deklassierten, die von Deklassierung bedrohten. bzw. die sich deklassiert Fühlenden aller Klassen und Schichten ein, die nach Vergeltung für erlittene oder empfundene Demütigungen und Abwertungen suchen. Wenn er an die Macht kommt, bleibt von dem vorgeblichen Kampf gegen das Establishment wenig übrig, die Interessen der an den Rand Gedrängten kommen unter die Räder. Diese klassenmäßige Bestimmungen scheinen auf die russische Situation wenig zu passen, alle anderen Merkmals durchaus. Vor allem der von August Thalheimer in den späten zwanziger Jahren von Marx entlehnten Begriff des Bonapartismus, also eines über den Klassen stehenden verselbständigten Staatsapparats, vermittelt tiefere Einsichten in den Charakter des russischen Regimes.7

Eine andere Parallele springt ins Auge. Es fällt „normal Sterblichen“ schwer, wie man mit diesen aus Krisenprozessen hervorgebrachten Bewegungen und ihren Anführern umgehen soll. Ist es denn nicht augenfällig wie hier gelogen, die Tatsachen verdreht, Irrationales behauptet wird und ist ein skrupellos gewaltbereiter Mob nicht abstoßend? Wie können irrlichternde Gestalten wie Mr. Trump so viel Einfluss gewinnen? Historische Erfahrungen sind bei der Klärung dieser Frage hilfreich, aber nicht hinreichend. Hannah Arendt hat mit Blick auf die humanistische und aufklärerische Denktradition in der Gesellschaft angemerkt, „dass wir uns von dem radikal Bösen keinen Begriff machen können“.8 In den dreißiger Jahren herrschte lange die Vorstellung, dass man sich mit Hitler-Deutschland verständigen möge, um Schlimmeres zu verhindern. Eric Hobsbawm hat über den Umgang mit Hitlers Deutschland dazu treffend geschrieben: „Es ging um eine faschistische Macht. Solange diese Tatsache beiseite gelassen oder nicht richtig eingeschätzt wurde, konnte man diesem Staat auch noch mit den üblichen Kalkulationen der Realpolitik begegnen. Man konnte Deutschland Widerstand leisten oder es beschwichtigen …“9 Zum Versuch, dieses Deutschland zu beschwichtigen, ihm Kompromisse anzubieten, wie es die USA, Großbritannien und Frankreich längere Zeit versuchten, schreibt Hobsbawm: „ … Kompromisse und Verhandlungen mit Hitlers Deutschland waren unmöglich, denn die politischen Ziele des Nationalsozialismus waren grenzenlos und irrational. Expansion und Aggression gehörten untrennbar zum System …“10 Auch damals wurden Teile der Linke in ein großes Dilemma gestürzt: Sie mobilisierten aus der Erfahrung mit dem Schrecken des ersten Weltkrieges und wegen der zu erwartenden Grausamkeit des kommenden gegen den Krieg, propagierten den Frieden. „Andererseits aber konnte kein Widerstand gegen den Faschismus Erfolg haben, der nicht bereit war, zu den Waffen zu greifen.11

Nun muss natürlich die Frage gestellt werden, welche Aussagekraft solche historischen Vergleiche überhaupt haben. So kann durchaus in Frage gestellt werden, ob die obigen Zuschreibungen auf Putins Russland passen. Ein großrussischer Chauvinismus muss auch nicht automatisch zu Expansionskriegen führen. Und die eurasischen Machtphantasien reichen in der Tat an den Omnipotenzwahn der Nazis („Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“) nicht heran. Aber dies ist vor allem den veränderten geopolitischen Umstände geschuldet. So viel kann mit Sicherheit gesagt werden: Putins Russland ist ein besonders autokratisches, ultrareaktionäres Regime, dessen totalitäre Tendenzen durch den Angriffskrieg noch beschleunigt worden sind. Stellt man die alltägliche Kriegspropaganda des Regimes (Russia Today: „alle russischen Länder zurückholen“), die staatlichen Kampagnen für „traditionelle Werte“ (sprich: reaktionär-fundamentalistisch) in Rechnung - und das sollte man tun, denn es prägt das gesamte Denken der Gesellschaft – so liegt man mit dem Etikett „präfaschistisch“ nicht verkehrt. Für eine präzise Typologie werden dennoch weitere Analysen und Erörterungen nötig sein.

Neben den „ideologischen“ Merkmalen sollten auch strukturelle Gegebenheiten, die die Grundlage für den Typus autoritärer bis totalitärer Herrschaft bilden, im Blick bleiben. Im Falle Russlands sind es die Macht des Sicherheitsapparats (Silowiki) und der Oligarchen des fossilen Energiesektors, der Aufstieg eines Führers und einer mit ihm verbundenen Gruppe/Partei, aber auch die ideologischen Welten, in denen sich diese Staatskaste bewegt, die sich in staatlicher Geschichtspolitik und Medienapparaten materialisieren usw. Zugleich ist es wichtig zu erkennen, dass sich ein solches Herrschaftsprojekt als dynamischer Prozess entwickelt, der von innergesellschaftlichen wie internationalen Faktoren und Entwicklungen abhängt.12 Der Putin von 2001 ist mit dem Putin von 2012 und erst recht heute nicht zu vergleichen. Der Krieg gegen die Ukraine wurde nicht 2008 nach dem NATO-Gipfel, der die Aufnahme der Ukraine grundsätzlich billigte, geplant. Erst als man sich in ausreichender Stärke wähnte, sich eine günstige Gelegenheit bot (der Abzug der NATO aus Afghanistan, die Streitereien in der EU etc.), und man mit verhältnismäßig wenig Widerstand rechnete, kam der Angriffsbefehl. Der Euromaidan 2014 wurde in Moskau so gedeutet, dass man jetzt losschlagen müsse, wenn man die Ukraine nicht endgültig verlieren wollte. Die verhältnismäßig verhaltene Reaktion westlicher Staaten auf die Annexion der Krim und die Gründung der prorussischen Teilrepubliken im Donbass tat ein Übriges dazu, um den Schritt zum großen Krieg zu wagen. Der Krieg schließlich hat Russland weiter verändert – siehe die Umstellung auf die Kriegswirtschaft, die verschärfte Repression gegen alle Andersdenkenden, die ideologische Konditionierung qua Massenmedien.

Die inzwischen breit vorhandene Literatur und die Kenntnisse über die Alltagsrealität in Russland (zuletzt der Tod des Oppositionsführer Nawalny, der quasi einer Lager-Schocktherapie unterzogen wurde) belegen ausreichend, dass Putins Russland inzwischen faschistoide, totalitäre Züge aufweist.13 Eine pauschale Abweisung der Faschismusthese hilft jedenfalls nicht weiter. Es könnte sich als gefährlich erweisen, die Gefahren, die aus der totalitären Wendung Russlands drohen, zu ignorieren.14

4. Der Anteil des Westens an der russischen Entwicklung

Die Entwicklung der Russischen Föderation zu einem russische präfaschistischen Staat kann nicht isoliert vom Weltgeschehen begriffen werden. Dies gilt vor allem deshalb, weil der Epochenbruch 1989/90 die Folgejahrzehnte prägte und dabei die Konflikte im postsowjetischen Raum einen wichtigen Brennpunkt bildeten. Der Untergang des sowjetischen Imperiums war mit zwei Weichenstellungen verbunden, die die damals proklamierten Hoffnungen auf eine neue friedliche Weltordnung konterkarierten: Die USA sahen sich in ihrer Rolle als exzeptioneller Macht bestätigt, die im Zentrum einer unipolaren Weltordnung stehen sollte. Die NATO, die ihres Feindes beraubt worden war, wollte unbedingt bleiben und musste dazu neue Gestaltungsansprüche „out-of-area“ anmelden. Was diese Fixierung der Militärallianz im Verhältnis zu Russland und zu den mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) bedeuten würde, war eine kurze Zeit offen. Aber die ursprüngliche Absicht, neue Trennlinien in Europa vermeiden zu wollen, wurde sehr rasch aufgegeben. Entwicklungen in Russland (Putschversuch, Tschetschenien) spielen dabei eine Rolle, aber mehr noch innenpolitische Prozesse in den USA. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Mary Sarotte hat nach dem Studium umfangreicher Originalquellen und vielen Interviews mit maßgeblichen Politiker*innen diese Entwicklungen für die neunziger Jahre akribisch nachgezeichnet.15 Die ursprüngliche Idee der NATO, eine allen Ländern im Osten offenstehende „Partnerschaft für den Frieden“ anzubieten, wurde 1995 de facto aufgegeben. Damit wäre man den auf den NATO-Beitritt drängenden Visegrad-Ländern (Polen, Tschechien, Ungarn) entgegengekommen und hätte durch militärische Kooperation deren Sicherheit vor Russland erhöht, zugleich aber das Entstehen neuer Bruchlinien zu Russland, der Ukraine etc. vermieden. Diese Idee aufzugeben war ein schlimmer Fehler, der sich rächen sollte. Er wurde auch nicht dadurch kompensiert, dass in diesem Jahrzehnt und den Folgejahren eine beträchtliche Integration dieses Raumes in die Weltwirtschaft stattfand und weitreichende sicherheitsrelevante Abkommen und Vereinbarungen erreicht werden konnten (Verträge über strategische Nuklearwaffen, im konventionellen Bereich der KSE-Vertrag, schließlich die Konstituierung des NATO-Russlandrates). Das Ganze wurde mehr und mehr überlagert durch eine sich entwickelnde Konfliktdynamik (Golfkrieg, Balkan-Kriege. Tschetschenien, Nine Eleven-Terroranschlag), die sich auch auf das Ost- Westverhältnis auswirkte. Statt der 1990/91 auf den Schild gehobenen neuen Weltordnung war eine Erosion dieser regelbasierten Ordnung, in der der UNO eine Schlüsselrolle zukommen sollte, zu verzeichnen.

Die USA spielten unter der Präsidentschaft George W. Bushs eine besondere Rolle, weil sie in Afghanistan und im Irak zwei Kriege führten, die ganze Regionen destabilisierte und eine weitere Gewalteskalation nach sich zogen. Im Verhältnis zu Russland, das um die Jahrhundertwende durch eine vom Westen beförderte Schocktherapie am Boden lag, setzte sich vor allem in den USA die Haltung durch, dass man „die Russen kaufen“ könne (Sarotte). Die Eliten in den USA glaubten, dass man deren Belange daher nicht mehr sonderlich beachten müsse.

Es war auch ein Fehler, bedingungslos auf Präsident Jelzin zu setzen, der die rudimentäre parlamentarische Demokratie durch eine Art Präsidialdiktatur ersetzte (Coup d`etat 1993) und den Aufstand der Tschetschenen blutig niederschlug. Jelzins wirtschaftspolitische Schocktherapie kam den Interessen des internationalen Kapitals entgegen; das zählte mehr als das Streben nach Demokratie. Andererseits: Welche Alternativen gab es? Die Kontrahenten Jelzins, der rechte Nationalist Schirinowski und der Nationalbolschewik Sjuganow, standen für den Weg zurück in finstere Zeiten. Demokratieförderlich war die Kritiklosigkeit „des Westens“ gleichwohl nicht. Das gilt auch für die Unterstützung des Jelzin-Nachfolgers Putin, der seinen kometenhaften Aufstieg aus dem Geheimdienst an die Staatsspitze durch die nochmalige brutale Niederschlagung der Tschetschenen befestigte. Die Bewunderung Putins durch den Ex-Bundeskanzler Schröder mag als Beispiel genügen, um zu zeigen, dass „westliche Politik“ auf ihre Weise den Irrweg der russischen Entwicklung begünstigt hat.

Auch an den sicherheitspolitischen Verhärtungen sind NATO-Mitgliedsstaaten nicht unbeteiligt gewesen. Auf der anderen Seite bleibt festzuhalten, dass sich die NATO-Mitgliedsstaaten an die Vereinbarungen des NATO-Russland-Grundlagenabkommens bis zum Angriff Putins auf die Ukraine gehalten haben! Scharf kritisiert werden muss, dass man bei den Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag allzu berechtigte Forderungen Moskaus strikt abwies, statt um Kompromisse zu ringen (die Einbeziehung der baltischen Staaten in einen neuen Vertrag, die Präzisierung der Stationierungsrichtlinien etc.). Es hätte also durchaus Alternativen gegeben. Die kritische Aufarbeitung dieser auf das „Ende des Kalten Krieges“ folgenden Zwischenzeit ist nicht aus Gründen historischer Rechthaberei notwendig. Es geht um Folgerungen für eine neue Ära des Friedens und der Zusammenarbeit, die aus dieser Kritik erwachsen sollten. Die Fortsetzung der Selbstgefälligkeit der „westlichen Staatengemeinschaft“, die ein charakteristisches Merkmal dieser Zeit ist, droht einen solchen Entwicklungsweg zu blockieren. Es ist kein Zufall, dass sie heute immer stärker von den Ländern „des Südens“ angeprangert wird. Das muss sich ändern.

Die Kritik am Westen taugt für eins jedoch nicht: zur Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges. Diese Entscheidung trägt einzig der russische Präsident. Und die innergesellschaftlichen, machtpolitischen Voraussetzungen zu dieser Kriegsentscheidung wurden durch endogene Faktoren bestimmt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 und die politische Legitimationskrise 2010/2011 führten in der zweiten Amtszeit Putins zu Weichenstellungen zu einem immer totalitärer werdenden Staat, der sich auf äußere Expansion und die Konfrontation mit der „westlich“ dominierten Weltordnung verlegte.16

Eine kritische Einordnung der USA- NATO-Politiken der Vergangenheit unterscheidet sich elementar von einer Umkehrung der Täter- Opferbeziehungen im Krieg gegen die Ukraine, wie sie in Teilen der Linken und der Friedensbewegung seit dem Februar 2022 leider bis heute vorgenommen wird. Schon aus Gründen moralischer Glaubwürdigkeit gilt, dass es keinerlei Nähe zu den Putin` schen Rechtfertigungen geben darf.

5. Die aus den Fugen geratene Welt

Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat jüngst die Aussage gemacht, die Lage heute sei schlimmerer und schwieriger als zu Zeiten des Kalten Krieges nach 1945. Der Mann hat Recht. Das hat nicht nur mit den eben geschilderten Veränderungen in Russland zu tun. Der Krieg in der Ukraine ist eingebettet in bedrohliche Entwicklungen globalen Ausmaßes:

Ein neuer Wettstreit um globale Hegemonie, mit China und den USA an der Spitze und ihnen jeweils zuzurechnenden Bündnispartnern hat begonnen. Die Unsicherheiten und Reibungen, die eine solche Übergangsphase mit sich bringt, sind aus der Geschichte bekannt. Auch wenn sich, im Unterscheid zum alten Kalten Krieg. keine zwei homogene Blöcke gegenüberstehen werden, wird dieser „Ordnungskonflikt“ die internationalen Beziehungen prägen. Die daraus entstehende multipolare Weltordnung, d.h. auch die Pluralisierung der Machtzentren, wird die Welt nicht per se friedlicher machen, sondern mit Wettrüsten, Krisen und Spannungen verbunden sein. Die vorauszusagende Machtverschiebung nach Asien (China, Indien) und die damit einhergehende deutlichere Kritik der Staaten des globalen Südens am „Westen“ und seiner Doppelmoral ist zumindest ambivalent zu deuten. Nicht jede Kritik am westlich-kapitalistischen Entwicklungsmodell ist fortschrittlich.

In diesem Kontext ist auch der Anspruch Putins zu sehen, Russland wieder zu einer globalen Führungsmacht machen zu wollen. Putin inszeniert sich als Anführer der globalen Unterklassen und des nach Gerechtigkeit strebenden Globalen Südens, um auf diesen Resonanzboden gestützt, die eigene imperiale Agenda voranbringen zu können. Mit BRICS ist ein Staaten-Club entstanden, der v.a. durch das Streben geeint wird, die globale Hegemonie des „Westens“ zu brechen. Die damit einhergehende Aushöhlung einer auf der UN-Charta gründenden regelbasierten Weltordnung verheißt nichts Gutes. Die dringend gebotene weltweite Zusammenarbeit zur Abwehr der Klimakatastrophe droht weiter ins Hintertreffen zu geraten. Multipolarität ist per se kein Modell für eine friedlichere Zukunft. Es bleibt auch zu hoffen, dass kulturrelativistische Ideen, die die Universalität der Menschenrechte in Abrede stellen und in denen autoritär-konservativen Gesellschaftsmodellen ein Freibrief erteilt wird, auf Dauer keine globale Ausstrahlung entwickeln können.

Wenn heute ein Kalter Krieg 2.0. apostrophiert wird, so ist darauf hinzuweisen, dass wir längst in einer neuen Ära der Aufrüstung und zunehmend gewaltförmiger Konflikte angekommen sind. Die Zahlen des Uppsala Conflict Data Programs belegen diesen Trend. Zwischen 1990 und 2007 ist die Zahl der bewaffneten Konflikte gefallen. Der Wiederanstieg begann ab 2010. Im Januar 2023 musste die UN feststellen, dass ein Höchststand seit dem Ende des II. Weltkrieges erreicht wurde.17 Die letzten Monate haben mit den Kämpfen im Congo, im Südsudan, zuletzt dem mörderischen Konflikt in Gaza/Nahost, diesen „Rekord“ noch getoppt. Die Entfesselung der Gewalt drückt sich auch darin aus, dass neben regulären Streitkräfte der Staaten bewaffnete Gruppen (Milizen), die Zugang zu modernster Waffentechnik und üppigen Finanzen haben, die wiederum von anderen Staaten unterstützt werden, eine große Rolle spielen. Man liegt richtig, wenn man dabei an die von Moskau geführten Söldnermilizen in Teilen Afrikas denkt.

Eins fällt in diesem Zusammenhang besonders auf: Die Vereinten Nationen, die eigentlich und in erster Linie für Frieden und internationale Sicherheit zuständig sind, sind nahezu völlig an den Rand gedrängt worden. Die rivalisierenden Großmächte bzw. nach mehr Einfluss strebenden Regionalmächte wollen die Dinge unter sich ausmachen. Auf internationale Regeln (UNO-Charta) wird dabei wenig Wert gelegt. Dazu passt, dass die erreichten Fortschritte auf dem Feld der Abrüstung und Rüstungskontrolle nahezu komplett außer Kraft gesetzt wurden. Die Nichtratifizierung des Anpassungsübereinkommens zum KSE-Vertrag 1999 vor allem durch die NATO-Mitgliedsstaaten, die vor allem von den USA betrieben wurde, und der von den USA einseitig gekündigte Vertrag über die Raketenabwehr 20002 gehören ins Sündenregister westlicher Politik. An anderen Verträgen (Bsp: INF) gab es ein beiderseitiges Desinteresse der vormaligen Supermächte. Neue Verhandlungen zur strategischen Nuklearrüstung liegen auf Eis, bestehende Verträge zu Mittelstreckenraketen (INF), konventioneller Rüstung (KSE) wurden aufgekündigt, die Gesamtheit der vertrauensbildenden Maßnahmen (Datenaustausch, Open Skies) ist hinfällig geworden. Ein wirklicher Neuanfang wird vermutlich erst nach einem Ende des Ukraine-Krieges begonnen werden.

Diese Sicht auf die heutige Weltlage bietet wenig Hoffnungsvolles, ja, sie trägt eher dazu bei, resignieren zu wollen. Aber es bleibt dabei: Wenn der Planet Erde eine gedeihliche Zukunft haben soll, muss darum gekämpft werden, dass Friedens- und Abrüstungsprozesse wieder in Gang kommen und die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen konsequent angepackt werden.

6. Kampf um zivilisatorische Werte und Institutionen

Die normative Einteilung der Welt in ein bestehendes gutes Lager - das Bündnis der Demokratien – und ein Lager der Autokraten, der Schurken also – ist mehr als fragwürdig und unscharf. Richtig ist, dass dieser Grundkonflikt nahezu alle Gesellschaften, bzw. Staaten durchzieht, er aber nicht bruchlos auf die Staatenwelt und dort existierende Konstellationen übertragen werden kann. Die Annahme einer weltumspannenden Auseinandersetzung um die demokratisch-freiheitlichen Grundwerte hat gleichwohl etwas Richtiges. Auf die zahlreichen Krisen der Gegenwart reagieren reaktionäre Bewegungen mit nationalistischen, rassistischen, ethnisch-religiös aufgeladenen Konzepten, die düstere Vergangenheiten heraufbeschwören. Dazu gehört eben das Modell „Putin“. Der russische Präsident Wladimir Putin versucht sich an die Spitze einer solchen rückwärtsgewandten Allianz zu setzen, um darauf gestützt, russisch-imperialistische Ambitionen durchsetzen zu können. Daher ist auch die Annahme richtig, dass es bei dem Angriff auf die Ukraine nicht nur um einen begrenzten regionalpolitischen Krieg geht. Den Machthabern im Kreml schwebt eine deutlich erweiterte Einflusszone vor, deren Grenzen nicht genau definiert sind.

Es wurde bereits gesagt, dass man mit Assoziationen zur „Systemkrise“ der dreißiger Jahre und dem faschistischen Versuch, das Rad der Geschichte ins Zeitalter der Imperialismen zurückzudrehen, vorsichtig umgehen sollte. Der warnende Hinweis auf diesen Zivilisationsbruch ist aber insofern hilfreich, als er klarer macht, was heute wieder auf dem Spiel steht: Es geht um die Universalität der Menschenrechte. Diese muss gegen jeglichen Kulturrelativismus oder ideologisch motivierte Einschränkungen entschieden verteidigt werden. Sonst droht eine weitere Abwärtsbewegung auf der Rutschbahn zu einer chaotisch-anarchischen Staatenwelt.

In eine ganz andere Richtung denken nicht nur hierzulande einflussreiche Wissenschaftler*innen. Sie gehen davon aus, dass in dieser „Welt(un)ordnung“, kein Platz mehr für romantische Vorstellungen einer wirkmächtigen UNO, einer europäischen Friedensarchitektur übrig sei. Das „komplette Denkgebäude der klassischen Friedens- und Konfliktforschung“ (sei) „ins Abseits geraten“, so der Politologe Ulrich Menzel.18 Ähnlich Herfried Münkler, der davon ausgeht, dass eine normativ ausgestaltete Weltordnung bestenfalls durch Verträge und Verabredungen der großen Mächte abgelöst würde, denen es vorrangig um eigene Interessenwahrnehmung gehe.19 Für diese Autoren scheint der neue Kalte Krieg zwar nicht wünschenswert, aber unausweichlich zu sein. Die alten Konzepte der Abrüstung, der internationalen Zusammenarbeit, der Global Governance werden für passé erklärt.

Nun spricht Einiges dafür, dass sich die Wirklichkeit in naher Zukunft im Rahmen der verschiedenen ernüchternden Szenarien bewegt, die von diesen Autoren durchgespielt werden. Und man mag es auch so sehen, dass es nicht die primäre Aufgabe von Wissenschaft sei, politische Wegweisungen zu formulieren. Aber dennoch gilt: Dieser Art eines Ultrarealismus ist entschieden zu widersprechen. Es wäre fatal, wenn es im politischen Raum keine Kraft mehr gäbe, die dieser Reduktion auf einen sich nun mal ergebenden Status Quo die Idee einer besseren Zukunft entgegenstellt. Eine solche Idee ist im übrigen „realitätsnäher“ als die dystopischen Erzählungen der machtaffinen Wissenschaft. Denn wenn es zutrifft, dass wir uns immer schneller auf verschiedenen Ebenen den Kipppunkten des Weltklimas nähern und ein „Weiter So“ extrem zerstörerische Konsequenzen für den Planeten nach sich ziehen würde, so ist äußerste Eile bei der Verteidigung der humanen Lebensgrundlagen geboten – und globale Zusammenarbeit. Mit andere Worten: Eine Ära globaler Konfrontationen können wir uns ebenso wenig leisten wie die Verlängerung der auf fossilen Quellen beruhenden Wirtschaftsweise. Dies gilt ebenso für eine Fortsetzung eines globalen Wettrüstens, das immer auch die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte erhöhen würde. Die Fokussierung auf die sozialökologischen Transformation wird zum kategorischen Imperativ internationaler Politik. Sie ist nur im Zusammenwirken der Staatengemeinschaft zu bewältigen, was tiefgreifende (Struktur-) Reformen in den internationalen Beziehungen unabweisbar macht.20 Die Vorstellung eines „Mächtekonzerts“, wonach die Großmächte den Entwicklungsgang der Weltpolitik bestimmen und kontrollieren, dürfte vor dem Hintergrund weiter wachsender Mitgestaltungsansprüche in den Schwellenländern und den Ländern des „globalen Südens“ nicht aufrecht zu halten sein. Die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele, die die UN-Generalversammlung 2016 beschlossen hat, ist ohne ein Mehr an Gleichberechtigung in den internationalen Institutionen nur schwer vorstellbar. Der oben gegebene Hinweis auf den Zusammenhang der Zunahme gewaltförmiger Konflikte mit der Marginalisierung der UNO ist an dieser Stelle von Belang. Es ist daher eine ganz schlechte Idee, sich von der UNO als Einflussfaktor zu verabschieden und die Bedeutung normativer Regeln abzuwerten. Im Gegenteil: Es geht um nicht mehr und weniger darum, die strikte Anerkennung des internationalen Rechts wieder durchzusetzen. Die Rolle der UNO als zentralem friedensstiftenden Faktor muss dabei wieder in den Mittelpunkt gerückt werden.

Es ist eine traurige Tatsache, dass die Kräfte, die sich gegenwärtig global dafür stark machen, vor allem in der Zivilgesellschaft anzutreffen sind und weniger in der Staatenwelt. Und sie sind schwach. Dennoch wird es Möglichkeit geben, dass sich neue Bewegungen, fortschrittliche Allianzen zwischen gesellschaftlichen Bewegungen, Einzelstaaten und den in internationalen Einrichtungen Tätigen bilden können, die sich dem Strom der Anarchie und der Unordnung entgegenstellen und helfen, das Raumschiff „Erde“ wieder in die richtige Bahn zu bringen.

Progressive Politik wird an den Zielen „Gerechtigkeit global“, „universelle Menschenrechte“, „Frieden und Abrüstung“ festhalten müssen, weil ohne diesen Kompass kein Fortschreiten möglich sein wird. Konzepte zur Krisenprävention und der friedlichen Konfliktbearbeitung bleiben ebenso aktuell wie Neuüberlegungen zur Rüstungskontrolle und weltweiter Abrüstung. Es ist deshalb äußerst positiv, dass der UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 20.07.2023 eine „neue Agenda für den Frieden“ vorgelegt hat, die bis dato viel zu wenig Resonanz erfahren hat. Es ist höchste Zeit, das zu ändern.21

7. Nüchterne Bedrohungsanalyse notwendig

Das Festhalten an zukunftsfähigen Zielen internationaler Politik ist das Eine; das Andere die konkrete Auseinandersetzung mit den Szenarien, die uns heute als unvermeidlich und alternativlos serviert werden. Zu diesen Szenarien gehört die Beschwörung, dass wir und unsere Lebensweise von den Bösewichten der Welt bedroht seien, gegen die eben nur eine wehrhafte Demokratie helfen könne. Aber stimmt das – siehe oben - etwa nicht? Schauen wir uns die Sache näher an.

Die Formel, dass am Hindukusch unsere Freiheit verteidigt würde, haben wir viele Jahre lang gehört. Dass daran etwas nicht stimmte, wurde schnell deutlich. Dass die Taliban uns überfallen wollten, stand nie an. Und die Kräfte, die in Afghanistan durch die US-/NATO-Intervention gestützt werden sollten, waren nur sehr bedingt demokratisch-freiheitlich. Mit dem Export der Freiheit mit militärischen Mitteln war es bekanntlich nicht weit her, die Mission ist gescheitert. Wenn jetzt wieder davon die Rede ist, die Ukraine verteidige unsere Freiheit und Sicherheit, so könnte Misstrauen angebracht sein. Aber die heutige Konstellation im Osten Europas ist mit Afghanistan nicht vergleichbar. Hat die Behauptung, dass es am Dnipro auch um unsere Freiheit gehen könnte, jetzt einen realen Kern?

Dabei kann diese Behauptung sich nicht nur auf den autoritären Charakter Putins abstützen. Dass dem autokratischen Russland eine Ukraine mit entschieden liberaleren Errungenschaften gegenübersteht, ist zweifellos richtig. Aber die Formel zielt ja auf einen „Systemkonflikt“ ab, der über diese beiden Staaten hinausgeht. Daher brauchen wir eine möglichst genaue Bedrohungsanalyse, die Einschätzungen des Gesamtkomplexes der zwischenstaatlichen Handlungsmöglichkeiten und –wahrscheinlichkeiten umfassen muss. Das schließt auch Fragen nach den Kosten und Nutzen für die jeweiligen Akteure ein, die aus verschiedenen Optionen erfolgen könnten. Was können wir hier voraussagen?

Dass damit zu rechnen ist, dass die Russen morgen wieder am Brandenburger Tor stehen, ist Nonsense. Dafür sind die Kräfteverhältnisse zwischen NATO und der Russischen Föderation zu eindeutig. Schon mit Polen hätte Russland eine harte Nuss zu knacken und einen unverdaulichen Brocken zu schlucken. Präsident Putin hat in seinem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson einen Angriff auf Polen oder Lettland ausgeschlossen.22 Schnell wurde in den Medien darauf hingewiesen, dass Putin dies auch im Falle der Ukraine getan und daher gelogen habe. Dies zu beachten, ist nicht falsch, kann aber eine Analyse, welches Kalkül Putin jeweils verfolgt, nicht ersetzen. Dass Russland sich auf einen unmittelbaren Krieg mit einem NATO-Mitgliedsstaat, der dann Bündnisfall würde, einlassen will, ist unwahrscheinlich, aber (Fehlwahrnehmungen!) nicht völlig auszuschließen.

Dass die Kreml-Führung Belarus und Ukraine als Teil und Ausgangsbasis eines großrussischen Imperiums betrachtet, ist in Wort und Tat ausreichend dokumentiert. Daher ist mit erbitterter Entschlossenheit zu rechnen, dieses Ziel auf dem Gefechtsfeld auch durchsetzen zu wollen. Das gilt für die beschlossenen Annexionen ebenso wie für den Versuch, durch terroristische Attacken aus der Luft die ukrainische Bevölkerung zu demoralisieren und zur Aufgabe ihrer Souveränität zu zwingen. Die mitunter zu hörende Aussage; Russland wolle doch gar nicht „das ganze Land besetzen“, ist daher schönfärberisch und geht an der Sache vorbei.

Wie weit die imperialen Ambitionen ausgreifen, ob darunter auch Moldawa, Georgien, Nordkasachstan oder sogar das Baltikum und Teile Finnlands fallen, können wir nicht wissen. Es reicht aber, dass die Bevölkerung in den betreffenden Ländern eine große Besorgnis hat, dass ihr Selbstbestimmungsrecht per äußerer Gewalt eliminiert werden soll. Diese Existenzängste nicht ernst zu nehmen, wäre fahrlässig und könnte nur chauvinistischen Ehrgeiz in Moskau anstacheln. Es bleibt auch eine Tatsache, dass nahezu alle mittel- und osteuropäischen Staaten vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen sich von dem russischen Vordringen bedroht fühlen und darin ein beträchtliches Erpressungspotenzial sehen.

Betrachten wir die Sache dennoch nüchtern: Die eurasischen Machtphantasien, die unter Putin Auftrieb gewannen, stoßen an enge Grenzen. Im Osten hat das Gipfeltreffen der zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadshikistan, Kirgisien) mit China im Mai 2023 überdeutlich gemacht, dass sich diese Staaten keiner russischen Vormachtstellung beugen werden und ihre Zukunft eher in der Anlehnung an China sehen. Auch die Mongolei ist um Eigenständigkeit bemüht. Das Projekt der neuen Seidenstraße ist in diesen Ländern sehr attraktiv, dem Russland nichts entgegenzusetzen hat. Peking hat dort auch eine engere militärische Partnerschaft angeboten. An der Südflanke hat der mit türkischer Hilfe erreichte militärische Sieg Aserbeidshans über den früheren Russland-Verbündeten Armenien offengelegt, wie selbst der engere russische Einflussbereich geschwunden ist. Im Westen ist die NATO durch den Beitritt zweier rüstungsstarker Länder wie Finnland und Schweden noch dichter an Russland herangerückt. Gestützt auf die drückende militärische und wirtschaftliche Überlegenheit des „Westens“ dürfte eine Abhaltung russischer Angriffserwägungen doch ohne allzu große Bemühungen möglich sein, oder?

Aber Vorsicht. Auf der anderen Seite sind eben nicht unwichtige Positionsgewinne eines postimperialen, nach neuen Einflusszonen strebenden Russlands in Afrika und Nahost zu verzeichnen. Ja, in Europa selbst, hat Putin Freunde und Partner gefunden, die kräftig an der Erosion des europäischen Integrationsprozesses arbeiten. Durch seine Partnerschaften im Rahmen der BRICS-Staatengruppe und des Shanghai-Kooperationsrates erhofft sich das Putin-Regime Rückendeckung für die Pläne, auf die Weltbühne als führende Macht zurückzukehren. Die neue Achse mit Iran und Nordkorea, die in diesem Rahmen den besonders aggressiven antiwestlichen Part spielt, hat sich für Moskau bereits im laufenden Krieg durch größere Waffenzufuhr ausgezahlt. Es sind auch diese Faktoren, die sehr wahrscheinlich Putin zur Eröffnung des Krieges gegen die Ukraine verleitet haben. Und es ist nicht davon auszugehen, dass der großrussische Appetit auf Mehr kleiner geworden ist.

8. Neue Qualität: Die russische Aufrüstung

Gern wird der plausibel klingende Satz gesagt, die russischen Streitkräfte hätten ja schon Schwierigkeiten gehabt, Bachmut in der Ostukraine zu erobern, dann sei ein Vorrücken nach Danzig oder Berlin erst recht völlig unrealistisch. Dafür spricht Einiges. Dennoch bleibt die Aussage ungenau, weil sie statischer Betrachtung folgt und nicht die gravierenden Veränderungen seit dem Oktober 2022 erfasst. Die Kreml-Führung ist bei der Eröffnung ihrer „Spezialoperation“ davon ausgegangen, binnen weniger Tage Kiew in die Knie zwingen zu können. Entsprechend war der Kräfteeinsatz dosiert und die Kriegsführung eher zurückhaltend. Den Einsatzwillen der ukrainischen Territorialverteidiger hat man sträflich unterschätzt. Nachrichtendienstliche Fehleinschätzungen und chauvinistische Überheblichkeit ergänzten sich. Die beträchtliche Zahl der Fahnenflüchtigen auf der Krim und im Donbass, die auf die russische Seite wechselten, tat ein Übriges zu diesem Hochmut hinzu. Dieser Vorstoß auf die ukrainische Hauptstadt scheiterte kläglich. Nachdem man aber anschließend an der „Ostfront“ beträchtlich vorankam und bis zum Sommer große Gebiete (Mariupol) vereinnahmt hatte, beging man den nächsten Fehler. Man unterschätzte die Rolle, die die westlichen Waffenlieferungen ab Juli 2022 bei der Befähigung der ukrainischen Armee spielten (Himars-Artillerie etc.) und musste in der Herbstoffensive Kiews herbe Verluste einstecken. Man erinnere sich noch an die verzweifelten Appelle des Anführers der Wagner-Milizen, man möge dringend die benötigte Munition liefern und den Nachschub besser organisieren. Die Antwort bestand ab Oktober 2022 in der Teilmobilmachung, die treffend als Eingeständnis gewertet wurde, dass man sich im Krieg befinde, und in der brutalen Eskalation des Luftkrieges gegen die Lebensadern der ukrainischen Gesellschaft. Seitdem haben sich dieser „Lernprozess“ Moskaus und die Anspannung aller Kräfte für eine militärische Eskalationsüberlegenheit systematisch fortgesetzt. Die Kriegsmaschinerie des Kreml läuft seitdem auf Hochtouren, die Waffenproduktion wurde vervielfacht, monatlich werden neue Personalreserven nachgeführt und die Gesellschaft auf noch größere Opfer eingestimmt.23

Das Budget für Rüstung und Krieg beträgt offiziell 109 Milliarden Euro, was einem knappen Drittel des Gesamthaushalts entspricht! Ca. sechs Prozent des BIP werden für das Militär aufgewandt (Deutschland noch unter 2%). Natürlich wird damit auch Wachstum generiert – Menschen finden dort Arbeit, verdienen gutes Geld. Aber die Belastungen für die Ökonomie durch die exorbitanten Summen für Destruktivkräfte sind beträchtlich und das Geld für Zukunftsinvestitionen fehlt an allen Ecken und Enden. Daher stellt sich die Frage, wie lange die russische Seite diese Belastung durchhalten kann. Anlass zur Beruhigung ist das nicht.24 Man kann es auch so sagen: Russland ist zu einer noch gefährlicheren Macht geworden.

Dass Russland im gegenwärtigen Krieg horrende Verluste an Mensch und Material erleidet, ist eine Tatsache, auch wenn wir die genauen Zahlen nicht wissen können. Der Hinweis von Expert*innen, dass der Zeithorizont, um diese Verluste wettzumachen einige Jahre betragen wird (die Schätzungen reichen von fünf bis zehn Jahre), ist in die Betrachtung einzubeziehen. Daher ist Panikmache nicht angesagt. Es bleibt aber festzuhalten, dass Russland in den letzten zehn Jahren eine beträchtliche Vergrößerung und Modernisierung seines militärischen Arsenals betrieben hat, die es fortzusetzen gedenkt. Der Ukraine-Krieg hat sich zudem als Booster für rüstungstechnologische Neuerungen auf beiden Seiten herausgestellt (Digitalisierung, KI), die man aufmerksam verfolgen muss.25

9. Ja zum Selbstverteidigungsrecht der Ukraine

Wohl kaum jemand im linken Lager bestreitet, dass die Ukraine gegen den in Moskau vom Zaum gebrochenen Angriffskrieg das Recht auf Selbstverteidigung (VN-Charta, Artikel 51) in Anspruch nehmen kann. Dass sie dabei auch von bewaffneter Gegenwehr Gebrauch machen kann, halten viele auch für richtig. Leider bleibt dieses Zugeständnis in nicht wenigen Fällen eine bloße Leerformel. Schon mit der Forderung nach dem vollständigen Rückzug der russischen Streitkräfte, um die territoriale Integrität der Ukraine wieder herzustellen, haben sich manche schwer getan. Die UN-Generalversammlung hat genau dies in zwei Resolutionen unmissverständlich bekräftigt und sich auf den Standpunkt gestellt, dass der krasse Völkerrechtsbruch revidiert werden muss. Daher steht immer auch die Frage im Raum: Wie viel ist uns das Völkerrecht wert? Und: Wenn es um einen Akt der Notwehr im Einklang mit Artikel 51 der UN-Charta geht, gilt dann auch das Prinzip der Nothilfe? Solidarität kann nicht aus bloßen Bekundungen bestehen. Es geht um praktische Konsequenzen. In dieser Lage auf ehernen Prinzipien - „keine deutschen Rüstungsexporte“ - zu beharren, muss in den Augen der Überfallenen als moralisch bemänteltes Sich-Herumdrücken gewertet werden. Richtig ist allemal, dass sich jeder/jede mit den Folgen einer solchen Haltung auseinandersetzen sollte. Dass die Vertreter*innen der NATO-Politik, davon sprechen, dass eine kriegerische Aggression nicht belohnt werden darf und dass ein Zurückweichen der Ukraine nicht zu einem stabilen Frieden, sondern dem Gegenteil führen würde, wird nicht dadurch falsch, dass man mit deren politischer Grundhaltung nicht einverstanden ist. Es ist eben nicht ersichtlich und widerspricht allen Erfahrungen der letzten Jahre, anzunehmen, dass Wladimir Putin auf ein Einknicken der Ukraine seinerseits mit einem Rückzug und Friedensverhandlungen antworten würde. Die gesamten Erfahrungen des Krieges belegen, dass es der Kreml-Führung darum geht, sich einen Teil der Ukraine einzuverleiben, diese Gebiete zu russifizieren und in Kiew ein willfähriges Regime zu installieren, das mit der mehrheitlich gewünschten Europa-Orientierung des Landes bricht. Frieden und Sicherheit sind auf diesem Weg nicht zu erreichen.

Wladimir Putin hat zuletzt auf Fragen des Chefs der Nachrichtenagentur Rossiya Segodnya, Dmitri Kisseljow, geantwortet: “Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre von unserer Seite irgendwie absurd.“26 Braucht es noch mehr Klarheit über die Denkweise der Kreml-Führung?

10. Ohne Waffenlieferungen bleibt nur die Kapitulation

Die Kritik, dass sich die deutsche Debatte fast ausschließlich auf das Thema der Waffenhilfe für die Ukraine konzentriert habe, ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Relevanter scheint mir, dass dieser Streit innenpolitisch instrumentalisiert und moralisch aufgeladen, statt sachlich ausgetragen, wurde. Wichtigtuerische Vertreter*innen in Medien, Politik und Wissenschaft konnten mangelnde Kenntnis durch martialische Entschlossenheit zum Kampf überspielen. Dies ist mehr als ärgerlich. Die Story etwa, dass ein bestimmtes Waffensystem Game Changer in diesem Krieg sein könnte, wie die Leo II-Kampfpanzer - gerne von den Waffenlieferanten lanciert – wurde begierig in der Öffentlichkeit aufgegriffen, hält aber genauerer Prüfung nicht stand.

Es bleiben dennoch Grundtatsachen:

  • Ohne die Waffenhilfe von außen müsste die Ukraine eher früher als später vor dem russischen Angriff kapitulieren. Dass dies so ist, kann seriös von niemandem bestritten werden.
  • Ein solcher Diktatfriede qua Kapitulation ist das Gegenteil von Verhandlungen zwischen zwei eigenständigen Akteuren.
  • An ein gerechtes und daher dauerhaftes Ende der Gewalt ist unter diesen Vorzeichen nicht zu denken. Eher dürfte das Gegenteil zutreffen.
  • Das menschliche Leid des Krieges ist entsetzlich. Welches Elend ein abruptes Ende des Krieges zugunsten Putins hervorrufen würde, ist nur zu erahnen. Man denke nur an weitere riesige Fluchtbewegungen.

Die bittere Konsequenz lautet daher: Der Ukraine muss auch militärisch beigestanden werden, damit es überhaupt zu ernsthaften Verhandlungen und einem stabilen Friedensschluss kommen kann. Das bedeutet aber nicht, dass diese Unterstützung bedingungslos sein sollte – koste es was es wolle. Der oberste Leitsatz, wonach die NATO auf keinen Fall direkte Kriegspartei werden darf, ist strikt einzuhalten. Die NATO-Staaten wandeln ohnehin auf einem schmalen Grat, wenn man die intensive Unterstützung der ukrainischen Armee durch Ausbildung, Satellitenaufklärung, Nachrichtendienste, Militärberater bedenkt. Wenn jetzt ein französischer Präsident laut über den Einsatz von Bodentruppen nachdenkt, so sollten alle Alarmglocken läuten. Bundeskanzler Scholz hat völlig Recht, wenn er mit Blick auf die besondere deutsche Verantwortung die Lieferung bestimmter Waffensysteme besonders gründlich abwägen will.27

Die von links gern gehörte Kritik an der Fixierung der NATO-Mitgliedsländer auf immer mehr und immer schwerer werdende Waffen ist nicht ganz von der Hand zu weisen, geht aber im Kern an der Sache vorbei. Die Antwort der Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, blieb anfangs zögerlich, für eine gewisse Zeitspanne strikt begrenzt, unzureichend koordiniert, ohne Konzept.28 Die Zögerlichkeit, die bspw. US-Präsident Joe Biden oder Kanzler Olaf Scholz an den Tag gelegt haben, hatte trotzdem etwas fundamental Richtiges. In der Konfrontation mit dem hochgerüsteten, nuklear bewaffneten Russland müssen die Risiken des militärischen Engagements sorgfältig abgewogen werden! Und diese Zurückhaltung - trotz anderslautender Kriegsrhetorik – war notwendig als Gegengewicht zu den Kalten Kriegern, die nur die Sprache der Gewalt kennen, weil ja der Gegner nur diese Sprache verstehe. Und doch ist es legitim Fragen zu stellen: Hätten Waffenlieferungen vor dem russischen Angriff, die über leichte Abwehrsysteme (Javelin, Stinger, die eher für einen Partisanenkampf nach einer Besetzung des Landes gedacht waren!) und eine Handvoll Flugzeuge herausgegangen wären, den raschen Vorstoß Russlands im Süden und Osten des Landes aufhalten können? Hätte die frühzeitige Lieferung von effektiven Luftabwehrwaffen (Iris T, Patriot) den Terrorangriffen Moskaus auf die Infrastruktur des Landes Grenzen setzen können? Hätte die bessere Ausstattung der Herbstoffensive den ukrainischen Kräften mehr Durchschlagskraft verleihen können? Die Offensive blieb stattdessen limitiert, was den russischen Streitkräften erst die Möglichkeit gab, Zeit zu gewinnen und sich in mehreren befestigten Linien zu verschanzen. Damit wurde das weitere Vorrücken der Ukraine erheblich erschwert. Aus dem Vorteil dieser gefestigten Defensive heraus, ist nun der Punkt erreicht, an dem Putins Truppen die Ukraine in arge Bedrängnis bringen können, deren Regenerationsfähigkeit und Bewaffnung Belastungsgrenzen erreicht hat. Wenn Russland entscheidende Durchbrüche gelängen, konnte es mit der ukrainischen Abwehrfront rasch vorbei sein. Daher tut man jetzt gut daran, eine solche fatale Entwicklung zu verhindern. In dieser Situation stattdessen einen Stopp der Waffenlieferungen an Kiew zu veranlassen, kann nur als Ermutigung des Angreiferlandes verstanden werden, mit der Landraub- und Unterwerfungspolitik fortzufahren.

Aber müssen wir uns überhaupt mit solchen „militärlogischen“ Betrachtungen beschäftigen? Ja. Es ist notwendig, immer die Dynamik des Krieges und seiner möglichen Fortsetzung im Auge zu behalten, denn davon werden schließlich auch die jeweiligen Denkhorizonte der beteiligten Akteure beeinflusst. Und Friedenswissenschaft, die sich auf gedankliche Modelle aus der „Ferne“ beschränkt, hat nur einen begrenzten Erkenntniswert.

11. Zu grobes Raster: Siegfrieden oder Niederlage?

Nun wird in der Debatte gerne darauf hingewiesen, dass sich der bewaffnete Konflikt festgefahren habe, keine Seite mehr entscheidende Gewinne erzielen könne. Übrig bleibe die unfassbare Zerstörung des Landes und der Verlust unzähliger Menschenleben. Mit Blick darauf erscheint ein sofortiger Waffenstillstand unabweisbar. Das Denken in den Kategorien von Sieg oder Niederlage erscheint in diesem Kontext als Realitätsverweigerung mit inhumanen Konsequenzen. Ist diese kritische Sicht nicht richtig? Ja und Nein. Der Wunsch, dass dieser Ist-Zustand schon aus humanitären Gründen beendet werden müsste, ist überaus nachvollziehbar. Nur leider geht der Wunsch an der komplexen Realität des Krieges und den damit verbundenen militärischen Logiken vorbei.

Die Kriterien Sieg oder Niederlage sind zu abstrakt und - auf die unmittelbar militärische Ebene verengt - nicht genügend aussagekräftig. Es ist vermutlich zutreffend, dass keine der beiden Seiten das Potenzial hat, die Gegenseite militärisch zu überwältigen. Aber die damit verbundene Vorstellung, dass es zu großen Entscheidungsschlachten kommen würde, wie wir sie aus früheren Großkriegen kennen, führt in die Irre. Ob eine Seite die Oberhand gewinnt und sich der Widerpart zurückziehen muss, hängt von mehr Faktoren ab. Die USA mussten aus Vietnam schmählich abziehen, obwohl sie keine einzige Niederlage auf dem Gefechtsfeld erlitten hatten. Für den Hals-über-Kopf-Abzug aus Afghanistan gilt dasselbe. Der Entscheidung zum Rückzug lagen komplexe Kosten-, Nutzenschätzungen zugrunde, die auch im Falle des Krieges um die Ukraine gelten würden. Wie hoch sind die Kosten des Krieges? Kann man diese Aufwendungen dauerhaft stemmen? Wie steht es um die Moral der kämpfenden Truppe? Welchen Rückhalt gibt es in den jeweiligen Bevölkerungen? Welche Chancen hat man, seine Ziele auch zu erreichen? Welche Imageverluste erleidet man international, wenn man einfach weitermachen würde usw.usf.?

Interessanterweise scheinen beide Seiten davon auszugehen, dass es vor allem darauf ankomme, den Gegner so zu zermürben, dass er irgendwann klein beigeben muss. In diesem Zermürbungs-/Abnutzungskrieg werden dann die Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten durchgespielt, die die andere Seite in einer bestimmten Zeit aufbieten kann oder auch nicht. Moskau setzt darauf, dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, das erhebliche Übergewicht Russlands bei der Mobilisierung von Personalreserven auszugleichen, glaubt daran, eine gewisse Überlegenheit aus der Luft aufrechterhalten zu können, die zur Ermüdung des ukrainischen Widerstandswillen führen müsse und geht insgesamt von einer abnehmenden Unterstützung des Westens aus. Kiew setzt auf die technisch überlegenen Waffensysteme der NATO-Länder, auf die entschieden höhere Produktivität dieser Länder, die sich längerfristig im Rüstungswettlauf auswirken sollte, auf die höhere Motivation seiner Bevölkerung und der Streitkräfte.29 Das bedeutet, dass die Vorstellung, der Krieg möge bald vorüber sein, leider nicht eintreffen wird. Der Zermürbungskrieg, der zugleich auf überraschende Vorstöße und Geländegewinne orientiert, um die jeweilige Ausgangslage zu verbessern, geht weiter.30

Was folgt aus einem solchen Szenario, wenn man weiter an der Solidarität mit der Ukraine festhält?

a) Es sollte weiter darum gehen, zu verhindern, dass die Ukraine aufgeben muss;

b) den Machthabenden in Moskau und der russischen Bevölkerung soll verdeutlicht werden, dass man die mit dem Krieg verfolgten Ziele nicht erreichen wird;

c) oberstes Ziel bleibt es, die Verhandlungsposition Kiews erheblich zu verbessern, um einen wirklich tragfähigen Frieden zu erreichen.

Dabei geht es weiterhin um die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes und die Behauptung der Ukraine als souveränes Land. Der Preis dafür ist verdammt hoch – und selbstverständlich sind immer auch Überlegungen notwendig und sinnvoll, ob ein Aufgeben, das in einen langfristigen zivilen Widerstand münden soll, nicht die bessere Alternative ist. Nur kommt man gegenwärtig nicht daran vorbei, dass sich die ukrainische Bevölkerung zum bewaffneten Widerstand entschlossen hat. Dies gilt trotz naheliegender Ermüdungserscheinungen immer noch.

12. Die Möglichkeiten der Diplomatie realistisch einschätzen

Weder Waffenstillstand noch Friedensverhandlungen sind im gegenwärtigen Krieg in Sicht. Ein Waffenstillstand, der nur zur Regenerierung oder Umgruppierung der Truppen genutzt würde, würde nur zu neuerlicher Eskalation der Kämpfe führen. Er müsste ergo mit der Einleitung von Friedensgesprächen verbunden sein. Dafür jedoch gilt der Satz: Friedensverhandlungen finden nicht statt, solange die Hauptbeteiligten partout nicht wollen, nicht dazu bereit sind und sich immer noch entscheidende Vorteile auf dem Gefechtsfeld erhoffen. Genau dies ist, siehe oben, allen Ermüdungserscheinungen zum Trotz, der Fall. Und es bleibt leider richtig, dass der Schlüssel für Verhandlungen in Moskau liegt, auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Putins Russland will diesen Krieg, die Ukraine verteidigt sich. Das wiederum bedeutet weder, dass die Ukraine für alle Zeit auf Maximalpositionen beharren darf, noch dass niemand sonst mitzureden hat. Aber ohne Signale des Angreifers, dass man bereit ist, zurückzustecken, ist eine Eröffnung von Verhandlungen wenig wahrscheinlich. Präsident Putin hat erst kürzlich bekräftigt, dass man nicht zurückweichen werde. Und das Mantra aus Moskau lautet unverändert, die Ukraine müsse die Realitäten auf dem Kriegsschauplatz anerkennen, will heißen, sie soll sich mit den russischen Eroberungen abfinden. Auch die Kriegsführung Moskaus lässt keine Begrenzung erkennen. Im Gegenteil: Sie ist auf weiteren Vormarsch ausgerichtet.

Der Einspruch gegen diesen ernüchternden Befund und das Insistieren darauf, dass man alles versuchen müsse, um möglichst schnell zum Frieden zu kommen, ist nachvollziehbar. Auf einen Friedensschluss hinzuwirken, um weitere Zerstörungen und Menschenopfer abzuwenden, ist hochgradig respektabel. Daher ist von der Bundesregierung und der EU auch zu fordern, dass sie Initiativen für Friedensverhandlungen unterstützt. Die Hoffnungen auf einen Erfolg der Dschidda-Initiative etwa haben sich allerdings bisher nicht erfüllt.31 Ob ein neuer Versuch der Schweiz, der beim Forum in Davos angeregt wurde, etwas bewirken kann, ist ungewiss. Dennoch sollte nichts unversucht bleiben, um der Diplomatie zum Durchbruch zu verhelfen. Es bleibt auch dabei, dass es genügend Vorschläge gibt, wie man längerfristig einer friedlichen Lösung des kriegerischen Konflikts beikommen könnte.32 Aber ohne den nüchternen Blick auf die realen Gegebenheiten geht es auch nicht.

Jetzt müsste ein Kompromissfrieden gefunden werden, sagen Kommentatoren unter Verweis auf ein vermutetes Patt im Stellungskrieg und das Ausmaß der Zerstörungen. Worin dieser Kompromiss liegen soll, wird nicht näher definiert, aber angedeutet. Die Ukraine möge Teile des Landes an Russland übergeben – die Krim sowieso, aber auch Teile der Ostukraine (Was ist gemeint: Die vormaligen Donbass Teilrepubliken oder die vier annektierten Gebiete?). Und sie möge sich als neutralen Staat definieren, der sich nicht der NATO anschließen würde. Auch die Mitgliedschaft in der EU möchten manche ausschließen. Was erhielte die Ukraine im Gegenzug? Die militärischen Angriffe Russlands würden eingestellt. Damit ist aber auch eindeutig gesagt, dass Putin seine Kriegsziele weitgehend erreicht hätte: Die anvisierte Landnahme und ein Veto über die künftige ukrainische Außen- und Sicherheitspolitik. Ob ein solcher „Kompromissfrieden“ dauerhaft bliebe, ist zudem offen.

Es ist daher kein guter Vorschlag, jetzt ausgerechnet dem Opfer des Krieges nahezulegen, einzulenken. Der Angreifer würde in seiner Entschlossenheit bestärkt, die eigenen Maximalziele auch erreichen zu können. Überdies: Ein Abrücken von den Beschlüssen der UN-Generalversammlung, in denen die Annexionen für null und nicht erklärt werden, heißt das Völkerrecht weiter zu schwächen. Friedensfördernd ist das nicht.

Nun weisen diejenigen, die für einen Kompromiss plädieren, der der Ukraine sehr viel abverlangen würde, darauf hin, dass die Ukraine in den Verhandlungen wenige Tage nach Kriegsbeginn doch selber weitreichende Zugeständnisse („Istanbul-Kommunique“) gemacht habe. Die Neutralität wurde angeboten, die Wieder-Inbesitznahme der Donbassregion und der Krim wurde faktisch zur Disposition gestellt. Abgesehen davon, dass ein solcher Kompromiss, anders als immer wieder behauptet, längst nicht ausverhandelt war33, sollten die jeweiligen Umstände exakt berücksichtigt werden.34 Ob die Selensky-Regierung sich behaupten würde, war zu Beginn der russischen Invasion nicht klar: Die Hauptstadt Kiew war umlagert, im Süden und Osten rückten russische Truppen in großem Tempo vor. Der Korrespondent des Wall Street Journals Yaroslav Trofimov hat das Geschehen in diesem Zeitraum und danach akribisch nachgezeichnet.35 Ob es westliche Unterstützung der Gegenwehr (zu der Selensky entschlossen war) in ausreichendem Maße geben würde, war ebenfalls noch offen. Der durch den Widerstand der ukrainischen Territorialverteidigung mit bewirkte Rückzug der russischen Truppen aus der Großregion Kiew, und die Zusagen der USA und Großbritanniens (Johnson-Besuch am 9. April 2022) moderne Kriegswaffen liefern zu wollen, trugen zu einem Stimmungsumschwung in Kiew bei, der die Selensky-Regierung davon überzeugte, dass man sich nicht den russischen Forderungen beugen müsse. Der Zorn der durch die aufgedeckten russischen Kriegsverbrechen (Butscha, Irpin) genährt wurde, tat ein Übriges, um die Skepsis über Friedensverhandlungen zu verstärken. Die Ausgangslage hat sich seitdem erheblich verändert und die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Jetzt von der Ukraine zu verlangen, sie möge sich wieder auf einen Stand zurück begeben, den sie mit dem Rücken zur Wand, kurzzeitig eingenommen hatte, ist nicht nur realitätsfremd sondern auch moralisch verwerflich. befremdlich. Vertreten lässt sich ein solcher Standpunkt nur, wenn man glaubt, Russland maximal entgegenkommen zu müssen, um Frieden zu erreichen. Die Belange des Schwächeren, des Unterlegener spielen in diesem Kalkül eine unterordnete Rolle. Was daran links oder fortschrittlich sein soll, erschließt sich nicht. Und eine Evidenz dafür, dass eine solche „Friedensregelung“ funktionieren würde, gibt es keineswegs.

13. (K)eine gute Idee: Den bewaffneten Konflikt „einfrieren“?

Mit Blick auf die verhärteten Fronten und die Unmöglichkeit des Sieges einer Seite sind in jüngster Zeit Überlegungen lanciert worden, die Ukraine möchte sich für einen Waffenstillstand verwenden, der darauf hinauslaufen sollte, den Konflikt „einzufrieren“. D.h. alle Territorialfragen bleiben de jure ungelöst, würden de facto aber auf russische Besitznahme hinauslaufen. Daher, so das Kalkül, könnte sich der Kreml mit einem solchen Ende der Kampfhandlungen einverstanden erklären. Das wäre zweifelsfrei bitter für die Ukraine, die Landesteile mit beträchtlichen Ressourcen (Schwarzerde, Rohstoffe, Häfen) aufgeben müsste und mit neuen Flüchtlingsproblemen konfrontiert wäre.

Zu einer solchen Übereinkunft würden ggf. gehören, die exakte Bestimmung der Demarkationslinie, Truppenentflechtungen und Gremien zur Überwachung und Streitschlichtung. Die Kontrahenten billigen den „militärischen status quo“ eher zähneknirschend. Daraus folgt aber auch, dass sie aller Wahrscheinlichkeit danach trachten, diesen Zustand irgendwann wieder zu verändern. Womit im konkreten Fall daher mit Sicherheit zu rechnen wäre, ist die Fortsetzung des Hochrüstens auf beiden Seiten. Dies gilt allerdings auch für andere Szenarien. Ein stabiler Frieden sieht jedenfalls anders aus. Nun könnte sich ein solches „Kriegsende“ dennoch als die beste aller schlechten Möglichkeiten herausstellen. Ein solcher Punkt ist im ukrainisch-russischen Krieg aber längst nicht erreicht. Über eine solche Beendigung der Kriegshandlungen nachzudenken, darf trotzdem kein Tabu sein.

Meine Einwände gründen sich auf folgende Aspekte: Einen Waffenstillstand, der direkt mit der Eröffnung von Friedensverhandlungen verbunden wäre, würde man nicht unbedingt mit dem Begriff des „Einfrierens“ assoziieren.36 Einfrieren bezeichnet in der Regel einen länger andauernden Zustand und bezieht sich auf die militärische Lage auf dem Kriegsschauplatz. Aber in diesem Fall gilt doch, dass Verhandlungen, die auf einen dauerhaften Frieden abzielen, diese Lage aber zur Disposition stellen, statt festschreiben müsste! Und ist eine Veränderung des Ist-Zustandes eine Conditio sine qua non für einen Friedensschluss? Die Rede ist vom Rückzug der russischen Invasionstruppen – auf welche Linie auch immer.

Zu bedenken ist auch, wenn man davon ausgeht, dass es nur darum gehen kann, die bestehende Frontlinie festzuschreiben, worüber dann noch verhandeln werden soll? Über die inneren Verhältnisse in den annektierten Gebieten (also quasi spiegelverkehrt zu Minsk: Minderheitenrechte für Ukrainer*innen etc.) wird nicht gesprochen werden. Anhand des georgisch-russischen Konflikts kann studiert werden, was in den vereinnahmten Gebieten (Südossetien, Abchasien) passiert: Russifizierung. Punkt. Bleibt als Gegenstand der Verhandlungen nur noch der Status der Ukraine. Für die Anhänger einer Befriedung Russlands (Peter Brandt, Egon Vad, Johannes Varwick und Andere) ist dabei klar, dass die Ukraine auf den NATO-Beitritt verzichten muss und sich für neutral erklärt - wie die Schweiz. Varwick geht folgerichtig noch einen Schritt weiter und will der Ukraine auch die Mitgliedschaft in der EU verweigern. Bekanntlich begann der russische Krieg nach dem Euromaidan, bei dem es nicht um die NATO-Mitgliedschaft ging, sondern um ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Wer also Putin maximal entgegenkommen will, wird davon ausgehen, dass der Ukraine auch der Weg in die EU verbaut sein wird. Die Folgen für die innere Entwicklung des Landes (Beispiel Belarus) aber auch für Bewegungen aus dem Land selbst (Flüchtlinge!) kann man erahnen. Es liegt auf der Hand, dass auf dieser Grundlage eine Zustimmung der Ukraine nicht zu erreichen ist; es sei denn, die Ukraine ist wegen der russischen Übermacht dazu gezwungen. Wie anders als „Diktatfrieden“ sollte man das nennen?

So gesehen ist die Vorstellung, man möge den Konflikt einfrieren und dann verhandeln, keine fragwürdige Idee: Die Gefahr ist groß, damit dem Credo der russischen Seite in die Hände zu spielen, dass die Ukraine erst die durch den Krieg geschaffenen Realitäten des Krieges anerkennen müsse, damit es zu Friedensverhandlungen kommen könne. Dass die Ukrainer*innen diesen Vorschlag als Affront ansehen (müssen), ist nachvollziehbar.

Was mir besonders missfällt: Diese Idee in einer Situation, in der die ukrainischen Streitkräfte unter erheblichem Druck stehen, zu präsentieren, macht es noch schwieriger. Es geht immer wieder um die Grundfrage, ob man ernsthaft glaubt, Wladimir Putin durch maximales Entgegenkommen an den Verhandlungstisch bringen zu können. Ich glaube das nicht.

Von anderer Ausrichtung ist die Idee bestimmt dass sich Ukraine im Gegenzug zur Billigung des Status Quo, der NATO anschließen könne und dadurch verlässliche Garantien für die künftige Sicherheit des Landes erhalten würde.37 Ist das realistisch? Es ist nicht auszuschließen, dass es faktisch zu einem solchen Ergebnis kommen könnte. Es wäre die „Kaschmir-Lösung“, die schon vor einiger Zeit als wahrscheinlichste „Lösung“ von Wissenschaftlern vorhergesagt wurde. Über die Folgen dieser „Lösungsvariante“ sollte man sich im Klaren sein: Die Rüstungsetats der NATO-Staaten würden weiter beträchtlich aufgestockt, die Sanktionen gegen Russland, die der Entwicklung von neuen Kooperationsbeziehungen im Wege stehen, blieben bestehen, mit weiteren Spannungen zwischen Russland und dem „Rest Europas“ ist für lange Zeit zu rechnen. Noch einmal: Diese „Lösung“ für alle Zeiten auszuschließen, wäre nicht klug. Aber beide Seiten müssten zustimmen. Das ist eher unwahrscheinlich.

14. „Regime Change“ oder Gegenmachtbildung?

Es wird in Friedenskreisen gerne kolportiert, dass man auch mit Autokraten sprechen und einen Friedensschluss erreichen müsse. Dem ist in dieser Allgemeinheit kaum zu widersprechen. Das enthebt uns aber nicht davon, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs im konkreten Fall ist. Da man dies nie abschließend bewerten kann, ist es auch richtig, Versuche zu friedlicher Einigung zu starten. Aber auch wenn es äußerst bitter klingt: Wie man es dreht und wendet, spricht viel für die Annahme, dass ein tragfähiges Ende dieses Krieges nur durch einen Regimewechsel in Moskau herbeigeführt werden wird.
Die jetzige russische Führung hat ihr Überleben eindeutig mit der Erreichung ihrer Kriegsziele verknüpft. Schon die im Oktober 2022 beschlossenen Annexionen belegen es. Der als Russland-Kenner ausgewiesene britische Historiker Orlando Figes geht daher noch einen Schritt weiter: „Um den Krieg zu beenden, müsste der Putinismus, das ganze System beendet werden, nicht nur die Macht Putins.“38 Dass ein solcher Wandel nicht von außen zu erreichen ist - mit militärischen Mitteln schon gar nicht – liegt auf der Hand. Welche Konsequenzen aus einer solch zugespitzten Annahme zu ziehen sind, wird man sorgfältig durchdenken müssen.

Wenn von Regimechange die Rede ist, kann man diejenigen, die davor warnen, gut verstehen. Nach der Zeitenwende 1989/90 war es ein Grundkonzept „westlicher Akteure“ in anderen Ländern, vornehmlich in den sog, „failed states“ den Aufbau möglichst demokratischer Staaten („nation-building“) voranzubringen. Militärisches Eingreifen galt dabei als probates Mittel. Dieses Modell ist weitgehend gescheitert. Was aus der erklärten Absicht, die Lage in fragilen oder feindlichen Ländern zum Besseren zu wenden, wurde, kann im Irak oder Libyen studiert werden. Dieses Desaster wirkt bis heute abschreckend. Die Linke, die davor warnte, hat Recht behalten. Aber nur die Negation dieses untauglichen, selbstgerechten Politikansatzes hilft auch nicht weiter. Denn es bleibt legitim und notwendig, sich Gedanken zu machen, auf welche Weise es gelingen könnte, das Putin-Regime maximal zu schwächen. Wie kann man die Kriegsfähigkeit des Landes mindern und zugleich die materiellen Belange der Bevölkerung möglichst schonen? Es geht also um den Gesamtkomplex der Sanktionen. Was ist zweckmäßig, was nicht? Zugleich bleibt es ein Gebot der Klugheit und der Voraussicht, wenn diese Politik immer wieder mit Angeboten an die russische Seite, sprich; die russische Gesellschaft zu künftiger Zusammenarbeit verknüpft wird.

Es geht auch nicht nur darum, auf die bösen Anderen zu zeigen. Die eigenen Verfehlungen westlicher Interventionspolitik sind zu benennen und zu korrigieren. Denn die notwendige politische Isolierung des Putinschen Regimes hängt nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, die Staaten, die sich heute zögerlich bis widerwillig zeigen, wenn es um die Verurteilung des Angriffskrieges geht, zu einer klarerer Haltung zu bringen. Dafür braucht es keine Moralpredigt, sondern einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik.

Kategorisch gilt auch, dass solche Regimewechsel von den jeweiligen Bevölkerungen herbeigeführt werden müssen. Aber was tun, wenn ein solcher Umschwung, der in diesem Falle einen Kriegszustand beenden könnte, nicht in Sicht ist? Dann bleibt nur die Möglichkeit, so die These, die Macht des kriegstreibenden Regimes durch eine Art „Gegenmachtbildung“ essentiell zu beschneiden. In unserem Fall müsste deutlich gemacht werden, dass der Kurs des Putin-Regimes für Russland verhängnisvoll und zum Scheitern verurteilt ist. 39.

Dass dazu die Koordination der Waffenhilfe (Ramstein Allianz) gehört, ist leider unumgänglich. Es geht aber um viel mehr. Es braucht eine politische Allianz, die sich für die Wiederherstellung der Souveränität und Integrität der Ukraine engagiert und das Völkerrecht wieder an die Stelle des Rechts des Stärkeren setzen will. Und dabei ist auch die gesellschaftliche und politische Linke gefragt. Aber unter welchen Bedingungen sollten Linke ein solches Bündnis unterstützen? Müsste man sich nicht stattdessen dem Ansinnen der USA und der NATO entgegenstellen, Russland unter allen Umständen schwächen zu wollen, um dann bessere Handlungsoptionen im globalen Wettbewerb mit China zu haben oder um den Forderungen der „emerging states“ nach mehr Einfluss in der Welt (siehe oben) im hegemonialen Eigeninteresse wirkungsvoller begegnen zu können? Ja, das wird man zu berücksichtigen haben und daraus eigenständige Positionen von links im Rahmen der Allianz gegen Russland entwickeln müssen. Damit hat sich die Frage extrem widersprüchlicher Bündnisbeziehungen nicht erledigt. Sie hat sich in bestimmten historischen Situationen immer wieder gestellt. Im spanischen Bürgerkrieg etwa, als demokratische Antifaschisten gemeinsame Sache mit der stalinistischen Sowjetunion und deren Ableger im Lande machen mussten, um die Republik zu verteidigen. Auf der Ebene der Staaten galt dies auch. Der linke US-Präsident Roosevelt agierte an der Seite des erzkonservativen britischen Premier Churchill und des sowjetischen Despoten Stalin. Das war die Grundlage für die Bildung der Vereinten Nationen. Wo steht geschrieben, dass es solche Allianzen nur im Falle einer globalen Existenzbedrohung geben darf? Und war der dialektische Ansatz, aus einer solchen Konstellation heraus, weitergehende demokratische, fortschrittliche Entwicklungen zu befördern, falsch oder illusorisch? Es gilt doch auch innergesellschaftlich, innerstaatlich, dass in breiten Bündnissen gegen die rechtsextreme AfD die Frage von links aufzuwerfen ist, warum die Rechte stark wird und was dies mit asozialer Politik „der Mitte“ zu tun hat, die eben überwunden werden muss. Darüber muss doch diskutiert werden!

Die schlechte Alternative dazu lautet Appeasement. So hat man die Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler vor dem II. Weltkrieg genannt. Dafür kennzeichnend: Die Bedrohung durch eine bewaffnete Aggression wurde lange Zeit heruntergespielt bzw. geleugnet; Schritte zur Eindämmung der Gefahr (abschreckende Rüstung. Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen) wurden abgelehnt bzw. verworfen und dem potenziellen Aggressor wurden stattdessen weitreichende Zugeständnisse angeboten, damit er friedlich bleiben möge (Bsp.: Großbritanniens Offerte an Deutschland zur Übernahme afrikanischer Kolonien, damit Hitler im Osten Ruhe gäbe). Das Resultat dieser Politik ist bekannt.

Welche Bedeutung dabei der Faktor Zeit hat, kann man anhand der Entwicklung der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts studieren. Die durch die Hoffnung auf Besänftigung des Nazi-Regimes (zu) lange versäumte rechtzeitige Gegenreaktion auf die deutsche Brachialaufrüstung führte dazu, dass der Aggressor nachdrücklich ermuntert wurde. D.h. auch, dass der Umfang der Verluste und Opfer durch den Krieg allein durch den raschen Vormarsch der Nazi-Wehrmacht immens gesteigert wurde (siehe). In einer gewissen Weise, den veränderten Umständen Rechnung tragend, gilt somit auch heute, dass es besser ist vorzusorgen als „nachzuarbeiten“. 40 Eine solche Aussage muss in linken Ohren erschreckend klingen und sie ist es auch. Aber was sind die wirklichkeitstauglichen Alternativen?

15. Containment statt Appeasement

Wer A sagt, muss B sagen. Wer sagt, die Ukraine darf nicht zur Kapitulation gezwungen werden, weil es friedenspolitisch fatal wäre, der wird für Waffenhilfe an das Land plädieren. Appelle reichen offensichtlich nicht.

Wer sagt, dass von Russland eine erhebliche und akute Bedrohung für die Anrainerregionen und ggf. darüber hinaus ausgeht und wer mögliche Angriffe auf das eigene Territorium verhindern will, der kann Maßnahmen der Bündnis- und Landesverteidigung nicht pauschal ablehnen.

Konkret: Was ist falsch daran, dass die NATO dieser nicht fiktiven Gefahr durch Um-Dislozierung ihrer Streitkräfte Rechnung trägt? So erscheint die Aufstockung der militärischen Präsenz und die dauerhafte Stationierung einiger Brigaden im Baltikum folgerichtig. Der bisherige Umfang dieser Truppenverlegungen kann von der Gegenseite auch nicht als provokativ aufgefasst werden. Diese Potenziale reichen nur zur temporären Abhaltung von Angriffsoperationen, zu mehr aber nicht. Mehr braucht es nicht. Aber es nicht zu tun, könnte als Einladung zur Provokationen der Gegenseite aufgefasst werden. Die militärisch exekutierte Verbreiterung des Korridors nach Kaliningrad etwa würde die NATO vor die Frage stellen, ob die Bündnisverpflichtung gilt und eine unmittelbar militärische Reaktion erfolgen müsse. Dies sollte man besser nicht riskieren.

Zur Abwehrbereitschaft gehört mit Blick auf die kriegswirtschaftliche Mobilisierung und die exorbitante Zahl der Waffenbeschaffungen in Russland auch, dass diesem Bedrohungspotenzial etwas entgegengesetzt wird. Dem scheint der Aufwuchs der Armeen in Osteuropa und die Unterstützung der Staaten, die im Visier russischer Expansion sein könnten, zu dienen. Aber wie weit will man dabei gehen? Welche Risiken nimmt man in Kauf? Wie können sie möglichst niedrig gehalten werden? Kann die angemessene Abwehrbereitschaft nicht durch Effizienzsteigerungen im militärischen Apparat erreicht werden, statt diesen Moloch immer weiter aufzublähen?

16. Ausreichende Landesverteidigung für Frieden unverzichtbar

Wer sagt, dass Landesverteidigung - wohl oder übel - unter den gegebenen Umständen sein müsse, muss ausbuchstabieren, wie er sich das vorstellt. Nur mit einer floskelhaften Zustimmung bei Ablehnung aller daraus abzuleitenden Konsequenzen wird man nicht weiterkommen und in der Öffentlichkeit nicht ernst genommen werden.

Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Bedrohungslage, die sich auch auf Erpressungspotenziale Moskaus beziehen muss, scheint der Prozess einer Umrüstung der Bundeswehr nahezu alternativlos. Dass dieser Umbau militärischer Logik folgt, ist nicht zu vermeiden. Unter Minister Pistorius wird dieser Prozess der Wehrhaftmachung und Abschreckung gegenüber Russland in größter Eile vorangetrieben. Leider kommt man an einem Tatbestand nicht vorbei: In der auf globale Interventionen getrimmten Bundeswehr wurden Kernbestandteile der alten „Verteidigungsarmee Bundeswehr“ erheblich ausgedünnt. Daher bedeutet Umrüstung auch partiell Rüstungssteigerung. In welchem Maße dies zu geschehen hat, muss kritisch hinterfragt und öffentlich debattiert werden. Die stupide 2%-Aufrüstungsformel ergibt wenig Sinn und ist weiter abzulehnen. Die Rüstungsausgaben (Personal, Beschaffungen, Forschung& Entwicklung) sind stattdessen je konkret sicherheits- und verteidigungspolitisch zu begründen. Dies gilt auch für die Frage, wie die Bundeswehr künftig ihren Personalbedarf decken will und ob zu diesem Zwecke die außer Kraft gesetzt Wehrpflicht wiederbelebt werden soll. Ein staatlicher Zwangsdienst ist und bleibt ein Eingriff in persönliche Freiheitsrechte und bedarf einer triftigen Begründung. Ob dafür der Hinweis auf eine zunächst abstrakte Bedrohungslage ausreicht, darf bezweifelt werden. Vor allem: Wenn der benötigte Personalumfang im Rahmen der Atlantischen Allianz (!) anderweitig gesichert werden kann, erscheint die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht als unzureichend begründet. Braucht man tatsächlich eine Aufstockung auf 250.000 Soldat*innen? Ob das von Minister Pistorius favorisierte schwedische Modell – allgemeine Musterung, die Truppe sucht sich danach geeignete Kandidat*innen aus – geeignet ist, das Rekrutierungsproblem zu lösen, bedarf genauerer Prüfung. Kann auf diesem Wege eine angemessene (soziale) Repräsentation der Bevölkerung und eine Hebung des Qualifikationsniveaus erreicht werden? An der hohen Abbrecherquote wird sich dadurch nichts ändern. Hier geht es um Motivlagen und um vernünftige Arbeits- und Lebensbedingungen. Wäre es nicht sinnvoller, zunächst hier anzusetzen?
Gerne wird in der Friedensbewegung ins Feld geführt, dass die NATO-Staaten fast 50 Prozent der Militärausgaben weltweit tätigen und damit Russland militärisch um ein Vielfaches überlegen seien. Als Konter gegen das marktübliche Lamento militärischer Interessengruppen über die unterausgestatteten Streitkräfte des Westens, taugt dieser Satz und es ist nicht verkehrt, ihn ins Feld zu führen. Dennoch ist diese Aussage deutlich unterkomplex. Viele Aspekte bleiben dabei unberücksichtigt: Der überragende Anteil der US-Streitkräfte an den NATO-Ausgaben, Ausgaben, die nicht zuletzt für die globale Machtprojektion aufgeboten werden, im konkreten Fall aber eher nutzlos sind (Flugzeugträger, globales Stützpunktsystem). Dies gilt auch für das große Gewicht der Etats für die Nuklearwaffen in den USA, Großbritanniens oder Frankreich. Ferner zu berücksichtigen das Ausmaß an Verschwendung und Fehlallokation im Rüstungskapitalismus, die Unvergleichbarkeit der Haushaltszahlen (z.B. unterschiedliche Herstellungskosten der Rüstungsgüter) und Einiges mehr. Zudem sind die sich unmittelbar gegenüber stehenden Streitkräftepotenziale zu vergleichen, nicht Globalzahlen. Last not least sind die Entwicklungstendenzen in Betracht zu ziehen. Nur ein Beispiel: Russland hat im letzten Jahr 1500 Panzer und 22.000 Drohnen neu produziert und den Streitkräften zugeführt.41 Der Gesamtbestand der Bundeswehr beläuft sich laut wikipedia (abgefragt am 07.04.2024) auf 295 Kampfpanzer und 732 Schützenpanzer. Der Drohnenbestand wird mit einer Zahl unter tausend angegeben. Nun ist die Bundesrepublik nur ein Mitgliedsland unter dreißig NATO-Mitgliedern. Es bleibt unter dem Strich daher eine Tatsache, dass die Nordatlantische Allianz Russland militärisch und wirtschaftlich drückend überlegen ist. Diese „Überrüstung“ auf Dauer zu stellen und gar noch ausbauen zu wollen, ergibt keinen Sinn, ist extrem kurzsichtig und daher abzulehnen.

Die erste Frage, die sich stellt und die bisher von den Militärs nicht beantwortet wird, lautet: Der Verteidigungsetat ist zwischen 2015 und 2024 von 34 auf 52 Milliarden Euro angewachsen. Das ist selbst inflationsbereinigt eine kräftige Zunahme. Wo ist das ganze Geld geblieben, wenn jetzt Inspekteure der Bundeswehr davon sprechen, dass die Truppe „blank“ dastehe? Danach wird man nachhaken müssen: Warum verschlingt das System Rüstung so viel Geld und liefert wenig Ertrag? Was wird gegen die offenkundige Verschleuderung von öffentlichen Geldern getan? Reichen die jetzt zum hundertsten Mal verkündeten Umstrukturierungsmaßnahmen aus, um Kosten zu sparen?

Wie hoch wird der Investitionsbedarf für einen solchen Umbau veranschlagt? Niemand scheint Genaueres zu wissen. Im Sondervermögen sind erhebliche Mittel für die Beschaffung der F-35-Flugzeuge der USA vorgesehen, mit denen die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik gesichert werden soll. Ein größerer Posten besteht aus der Munitionsbeschaffung, die der aktuellen Unterstützung der Ukraine zukommt. Nach 2026 soll ein neuer bisher ungedeckter Finanzbedarf auf die Bundeswehr zukommen. Was braucht man längerfristig wirklich? Wie soll dieser Bedarf bezahlt werden? Auch Einzelbeschaffungen, die im gegenwärtigen Klima durchgewinkt werden, gehören auf den Prüfstand. Nur ein Beispiel: Welchen Sinn sollte eigentlich die Beschaffung der Arrows 3 Raketenabwehrsysteme für die Bundeswehr haben? Gegen welche Waffen sollen sie eingesetzt werden?

Die Formel des Verteidigungsministers von der Kriegsertüchtigung der Deutschen wird in militärisch-industriellen Kreisen auch dahingehend übersetzt, dass man zum „Siegen“ fähig werden müsse.42 Reicht verteidigungsfähig nicht? Und was hat diese „Philosophie“ mit der altbekannten NATO-Doktrin zu tun, dass die Allianz auf jeder Eskalationsstufe militärisch überlegen sein müsse. „Eskalationsdominanz“ scheint weiter das Denken der Militärstrategen zu bestimmen. Ist das wirklich zwingend geboten, gibt es dazu alternative Strategien? Eine offene gesellschaftliche Debatte darüber kann es nur geben, wenn hier rüstungskritische Stimmen angemessen zu Wort kommen.

Im Rahmen des doppelten Ansatzes „abwehr- und abrüstungsbereit“ wird man sich auch Gedanken machen müssen, in welchem Maße eine zivile Verteidigung des Landes organisiert werden sollte. Manche werden sich an das Schlagwort der „vernetzten Sicherheit erinnert fühlen und dabei an die wenig erfolgreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr denken. Andere werden sehr schnell mit dem Vorwurf einer „Militarisierung der Gesellschaft“ bei der Hand sein. Es wird nicht reichen, diesen Vorhalt kategorisch abzuweisen. So richtig es ist, dass kritische Infrastrukturen hierzulande vor Naturkatastrophen, Terror und Krieg geschützt werden müssen, so bleiben doch Fragen, welchen Weg man einschlagen will. Orientiert man sich an den Modellen einer „Total-Defence“, wie sie in Ländern wie Österreich, der Schweiz, Finnland oder Schweden aufgebaut worden ist, die ein hohes Maß der Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens bedingen, oder gibt es dazu Alternativen? Welches Ausmaß sollen die Pläne zur Zivilverteidigung haben, wer wird in die Gesamtorganisation, wie einbezogen? Brauchen wir wirklich eine Bürgerwehr? Diese Debatte hat noch gar nicht begonnen.

17. Proeuropäisch denken: EU und Weltpolitik

Was das Verhältnis progressiver Kräfte zum Projekt der Europäischen Union angeht, so ist über Deutschland hinaus eine dauerhafte Kakophonie zu konstatieren. Angesichts der außerordentlichen Probleme, die die verschiedenen Erweiterungen der EU hervorrufen, der Zunahme der Fliehkräfte, tendieren linke Strömungen, Parteien gerne dazu, sich auf den nationalstaatlichen Rahmen, der mit sozialstaatlichen Errungenschaften verbunden war, zurückziehen zu wollen. Die Kritik an der kapitalistischen Globalisierung verbindet sich mit der Anklage, die EU wolle sich zu einem neuen imperialen Zentrum, Militarisierung inbegriffen, mausern. Aber aus einem „Nein zu …“, „Widerstand gegen …“ Fundamentalismus lassen sich keine zukunftsgerichteten Handlungsoptionen ableiten.

Vor dem Hintergrund der sich verstärkenden Weltunordnung, der großen Unsicherheiten über die künftige Entwicklung besonders mächtiger Staaten (USA, China), wird die Rolle der Europäischen Union gerade im „Europa-Wahljahr“ zunehmend Thema der Debatte. Soll sich die EU auf einen bescheidenen Platz in den Hierarchien der Welt zurückziehen oder soll sie sich in den Streit um globale Hegemonie aktiv und selbstbewusst einschalten? Wie soll und wie kann dies geschehen? Mit wem soll sie sich dabei verbünden, mit wem nicht? Oder gelingt ihr eine völlig eigenständige Rolle auch jenseits transatlantischer Verbündeter? Und auf welcher normativen und faktischen Grundlage sollte sie agieren?

→ EU als weltpolitischer Faktor

Mit Blick auf die Weltlage scheint die Erkenntnis naheliegend, dass ein Machtfaktor gebraucht wird, der dazu beiträgt, die aus den Fugen geratene Welt wieder ins Gleis zu rücken. Ein Staatenbündnis, das darauf hinarbeitet, die globale Zusammenarbeit bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen zu stärken, ist nötig. Dabei geht es a) um die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele (SDG`s), die die UN-Generalversammlung im September 2015 beschlossen hat, und b) um die Verteidigung freiheitlich-demokratischer Ideen. Nun entspricht die Realität der EU mitnichten einer solchen Anforderung. Aber welches andere Kraftzentrum soll ein solches Programm an vorderer Stelle ins Werk setzen? Wo liegen die größten Chancen, um mit den geforderten politischen Veränderungen zu beginnen? Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass der alte Kontinent am ehesten geeignet scheint, den Karren in die richtige Richtung zu drängen. Man mag das Eurozentrismus nennen. Aber die Annahme. der „globale Süden“ werde es schon richten, die an die großen Hoffnungen auf die „Dritte Welt“ früherer Zeiten anschließt, hat wenig Entsprechung in der Wirklichkeit. Aber richtig ist zweifellos, dass europäische Alleingänge eher kontraproduktiv wären. Es kommt darauf an, eng mit den Ländern des Südens zu kooperieren, die sich für globale Gerechtigkeit und friedliche Konfliktlösungen einsetzen.

Eine EU, die sich zersplittert, in Konflikten aufreibt, wird global keine Rolle mehr spielen können. Es geht auch nicht um eine statische Betrachtung, dass die EU bereits der Akteur sei, der die Welt retten könnte. Es geht um Zukunftsperspektiven, die ohne die Nachhaltigkeitsziele, tragfähige globale Entwicklungsstrategien, Menschen- und Freiheitsrechte, nicht erreichbar sein werden. Ein Rückzug auf ein Europa „souveräner Vaterländer“ wäre gleichbedeutend mit einem dramatischen Verlust internationaler Gestaltungsmöglichkeiten, was wiederum nationale Handlungsspielräume begrenzen dürfte. Die Vorstellung, der Prozess der Globalisierung ließe sich komplett umkehren, ist wirklichkeitsfremd. Eine begrenzte De-Globalisierung erscheint vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der kapitalistischen Durchdringung der Welt in den vergangenen dreißig Jahren alles andere als abwegig. Eine stärkere und gezieltere Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe erleben wir gegenwärtig ohnehin (was nicht immer vorteilhaft ist). Ein Zurück zu den nationalstaatlichen Konstellationen des 19. Jahrhunderts aber wird es jedenfalls nicht geben.

Bei der „weltpolitischen Befähigung“ der EU sollte es grundsätzlich weniger um den Aufbau eines neuen Machtzentrums inmitten hegemonialen Wettstreits gehen, sondern darum, dass die EU ein zentraler Faktor sein sollte, um die Gestaltungsmacht der Vereinten Nation und die Geltung des internationalen Rechts zu stärken.

→Ansatzpunkte für eine andere EU-Politik

Nüchtern, d.h. unideologisch betrachtet, wird man feststellen, dass es bei aller Grundsatzkritik vielfältige Ansatzpunkte für eine andere Politik der EU gibt. Sie durchzusetzen und weiterzuentwickeln, wird mit Blick auf den allseits erwarteten Rechtsruck bei den EU-Parlamentswahlen 2024 nicht leichter werden. Und die neoliberalen Beharrungskräfte sind längst nicht verschwunden. Aber mit dem Green Deal, Fit for 55, dem Recovery Fund ist ein Spurwechsel vom Neoliberalismus zum erneuerten Keynesianismus angelegt, an dem angedockt werden kann. Diese Transformation wird ohne eine Revision und Reform der Grundlagen-Verträge aber letztlich nicht gelingen. Auch dies gehört zur Wahrheit.

Was die Außenbeziehungen der EU betrifft, sind die Pläne nachhaltiger Entwicklungsförderung mittels Infrastrukturaufbau (Global Gateways) oder zu einer Grünen Wasserstoffökonomie genauer zu prüfen und zu konkretisieren. Es wäre zudem erforderlich, dass die EU positiv auf die neue „Entkolonisierungswelle“ besonders in Afrika angemessen reagiert, und statt der manischen Fixierung auf Migrationsabwehr endlich mithilft, die Lebens-und Umweltbedingungen in den Entwicklungsländern zum Guten zu wenden. Die Vorschläge für eine andere globale Finanz- und Handelspolitik (Reform der Bretton Woods-Institutionen, Bridgetown-Initiative) sollten dringend aufgegriffen werden.

→Strategische Autonomie der EU?

Die laufenden Kriege in Osteuropa und Nahost haben gezeigt, wie notwendig beides ist: Größtmögliche Eigenständigkeit der EU und die EU als vorwärtsdrängender Faktor für eine multilaterale, kooperative Weltordnung. In diesem Zusammenhang fällt häufig das Stichwort „strategische Autonomie“. Die drohende Gefahr einer zweiten Trump-Präsidentschaft in den USA hat solchen Überlegungen noch einmal eine besondere Brisanz und Dringlichkeit verliehen. Aber was bedeutete es, strategisch autonom zu sein? Welche Voraussetzungen müssten gegeben sein?

Die EU muss als ein Staatenbündnis („Block“) wahrgenommen werden, das für bestimmte Grundwerte und –Zukunftsziele steht und dabei an einem Strang zieht. Nennen wir es die geopolitische Orientierung oder die handlungsleitenden Narrative der Union. Von einer solchen Verständigung in der Gemeinschaft, die über wohlklingende Formeln hinausgehen müsste, ist die EU gegenwärtig recht weit entfernt. Aber gerade hier – im Wettstreit mit den Ideen und Vorstellungen anderer Akteure – wird Europa punkten müssen. Dafür spricht allein der demographische Faktor, der Europas Gewicht immer geringer werden lässt.

Um in den internationalen Beziehungen ausreichendes Gewicht zu erlangen, braucht es allerdings mehr. Glaubwürdigkeit ist z.B. ein hohes Gut. Und dabei ist der Nachweis, dass sich diese Prinzipien in der Wirklichkeit bewähren und sukzessive durchsetzen, elementar wichtig. Genau hier gilt: Es sind nicht zuletzt die doppelten Standards in der Außenpolitik der EU, die ihre Anziehungskraft und Ausstrahlung im „Rest der Welt“ mindern. Uneinheitlichkeit und Streit im Binnenverhältnis tun ein Übriges dazu, um die Spielräume der Union zu schmälern. Wenn Erzählungen (Narrative) wenig erfolgreich sind, schwindet deren Überzeugungskraft.43

Autonomie zielt machtpolitisch darauf ab, dass die Union eigenständige Entscheidungen treffen kann und sich nicht äußeren Einwirkungs- oder gar Erpressungsversuche beugen muss. Das setzt nach gängigem (realpolitischen) Verständnis voraus, dass sich diese Union auf ausreichende wirtschaftliche und militärische Stärke stützen muss, um Dinge auch selbstständig entscheiden und umsetzen zu können. Aber realiter entscheidet eine Reihe von Faktoren darüber, welche Handlungsmacht ein Staat bzw. ein Staatenbündnis in den jeweiligen internationalen Konstellationen hat. Dass die EU in der Weltwirtschaft ein maßgeblicher Faktor ist, ist kaum zu bestreiten. Muss sich die EU also nur noch eine global einsetzbare Streitmacht zulegen, um die erste Geige zu spielen? Schon allein die lange Kolonialgeschichte des Alten Kontinents spricht gegen diese Vorstellung. Die Widerstände gegen eine militärische Supermacht EU würden beträchtlich sein. Stattdessen werden Wirtschaft und Technologie, und vor allem die sog. weichen Machtfaktoren - Europa als Zivilmacht – darüber entscheiden, welche Rolle die EU künftig weltpolitisch einnehmen wird. Die Verschiebung der Gewichte hin zum Militärischen wird die spezifische Stärke der EU eher beeinträchtigen statt stärken.

Aber was ist mit der latenten militärischen Bedrohung durch den russischen Imperialismus, gegen den sich die EU wappnen muss? Und ist sie mit Blick auf Entwicklungen bei NATO-Verbündeten gut beraten, mögliche Aggressoren eigenständig abwehren zu können? Aber ist sie dazu auf mittlerer Sicht überhaupt in der Lage?

Auf dem Feld der Nuklearwaffen wird dies nicht möglich sein. Laufende Debatten über eine europäische Atommacht haben keinen Bezug zur Wirklichkeit und führen zu nichts. Auch bei den konventionellen Waffen wird es schwierig und eine entsprechende Aufrüstung hätte einen verdammt hohen Preis, der die Gemeinschaft an anderer Stelle (siehe oben) empfindlich treffen würde. Und erscheint es überhaupt zwingend, wenn man schon die Gefahr des US-amerikanischen Isolationismus beschwört, jetzt einer europäischen Abkoppelung das Wort zu reden? „Emanzipieren ohne abzukoppeln“, war ein Lieblingswort Egon Bahrs. Gilt dies angesichts der dramatischen Negativtendenzen in den USA nicht erst recht? Es bleibt richtig, dass der EU eine eigenständigere Politik gut zu Gesicht stünde. Ein drittes Lager, das sich machtpolitisch zwischen den USA einerseits und China/Russland andererseits zu behaupten sucht, ist indes überflüssig. Daher erscheint es sinnvoller, sich zunächst darauf zu konzentrieren, den europäischen Pfeiler in der NATO zu stärken.44 Das wurde seit Mitte der neunziger Jahre versucht und scheiterte jeweils am Widerstand der dominierenden Macht jenseits des großen Teiches. Aber die Zeiten haben sich geändert. Auch in den USA sehen außen-und sicherheitspolitische Eliten, dass die globalen Interventions- und Kontrollmöglichkeiten des Landes im Schwinden sind. Eine solche Orientierung scheint also nicht nur wegen der Notwendigkeit transtalantischer Verbindungen sinnvoll. Es gilt auch eine überflüssige und kostspielige Verdopplung von militärischen Kapazitäten und Strukturen zu vermeiden.

Nach Lage der Dinge kann man jedoch nicht ausschließen, dass sich unter einem Präsidenten Trump Isolationstendenzen in der US-amerikanischen Außenpolitik durchsetzen. Eine erratische Politik auch gegenüber Russland, ist zu erwarten, die gerade für die Ukraine-Solidarität desaströse Folgen haben könnte. Daher braucht die EU einen Plan B, der nicht nur Überlegungen einschließen muss, was in diesem Fall verteidigungspolitisch zu kompensieren wäre. Die Frage nach europäischen Sicherheitsgarantien, die die Artikel 42 (7) des EU-Vertrages niedergelegt, aber bisher substanzlos geblieben sind, wird neu auf der Tagesordnung stehen. Die Konkretisierung dieser Beistandsgarantien wurde bei den Vertragsverhandlungen von einer Reihe kleinerer Staaten abgelehnt. Bleibt dies so? Und was wären die Konsequenzen, wenn man solche Garantien will?

18. Konturen einer EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Damit sind die Fragen, die den gesamten Komplex einer EU-Militärunion betreffen, auf der Agenda. Sich nur gegen die „Militarisierung der EU“ zu wenden, wird nicht reichen. Gesunde Skepsis bleibt aber angesagt. Die Grundfrage: Ist für uns eine EU vorstellbar, die sich als Verteidigungsgemeinschaft versteht, die demzufolge das Kapitel postkolonialer Militärinterventionen beendet und die international beständig auf abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Schritte drängt (was die EU gegenwärtig mitnichten tut)?

Auf dieser Grundlage ließen sich Vorstellungen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln, deren konkrete Ausgestaltung freilich noch aussteht. Erste Gedanken können formuliert werden:

  • Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass der Auftrag der Streitkräfte im Rahmen einer „EU-Militärunion“ ausschließlich auf die territoriale Verteidigung gerichtet sein müsste. D.h. auch, sich von neokolonialen Militärinterventionen in Afrika und anderswo zu verabschieden. Inwieweit Truppenkontingente für UN-mandatierte und geführte Peace-Keeping-Einsätze bereitgestellt werden sollten, ist im Einzelfall nach restriktiven Kriterien zu prüfen.
  • Nationale Streitkräfte sind und bleiben eine Tatsache. Umso wichtiger ist es, einen Prozess der vermehrten Streitkräfteintegration und -kooperation innerhalb der EU zu bejahen;
  • Herauszufinden ist, welche kostensparenden Synergie-Effekte durch solche Integrationsprozesse (Rüstungspolitik, Infrastruktur, Truppenverbände) erreicht werden können und ob dadurch auch Rüstungsbegrenzungen möglich werden;
  • Militärische Doppelstrukturen EU/NATO sollten weitestgehend vermieden werden. Dies galt etwa für die bis dato nie eingesetzten EU-Battle Groups, deren Aufbau sich als dysfunktional erwiesen hat. Ob ihre Umfunktionierung im Rahmen des sog. Europäischen Kompasses Sinn ergibt, bedarf sorgfältiger Prüfung. Der Rückbau solcher Militärstrukturen darf kein Tabu sein.
  • Auch wenn man der NATO als Verteidigungsallianz einen gewissen Stellenwert zuweist - und der Ukraine-Konflikt wird nicht so schnell beendet werden und daher den Habitus der unmittelbar und mittelbar Beteiligten weiter prägen - so bleibt es ebenso richtig: Die Existenz der NATO ist nicht das Ende der Geschichte. Die Grundsatzkritik an diesem USA-dominierten, auf Rüstungsüberlegenheit gestützten und exklusiven Militärbündnis bleibt. Die Ersetzung der NATO durch eine gesamteuropäisch, transatlantische Sicherheitsarchitektur, die Russland einschließt, muss weiter das übergeordnete friedenspolitische Ziel sein.
  • Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik verlangt komplementär, dass sich die EU auf eine rüstungskontroll- und abrüstungspolitische Agenda verständigt. Ziel muss es sein, einen Ausweg aus der sinnlosen Rüstungsspirale und der damit verbundenen Ressourcenverschwendung zu finden.

19. Friedens- und sicherheitspolitische Alternativen

Heißt das unter dem Strich, dass man all dies, was uns als Kriegsertüchtigung täglich serviert wird, aus Gründen der „Staatsräson“ akzeptieren muss und nichts anders tun kann, als sich in die Schar der „Aufrüstungshardliner“ einzureihen? Mitnichten. Es wird für fortschrittliche Politik viel mehr darauf ankommen, nachdenklich-kritischer Gegenpol in dieser Gemengelage zu sein. Und - immer über den Tag hinausdenkend – Vorschläge in die Öffentlichkeit zu bringen, wie es danach weitergehen soll.

Es braucht warnende Stimmen vor den Risiken des sich weiter steigernden Krieges, die von den Cold Warriors gerne weggedrückt werden. Es braucht mahnende Stimmen gegen die Siegermentalität in Politik und Medien, die um jeden Preis kämpfen will. Und es braucht Stimmen, die vorausschauen, weiter blicken und die allen Umständen zum Trotz auf den Dialog und Diplomatie setzen, damit Frieden wieder möglich wird. Es geht um positive Möglichkeiten statt stupider Hau Drauf-Mentalität. Man wird realistisch sehen müssen, dass Deutschland als Hauptunterstützerland für die Ukraine nicht prominent in Frage kommt, wenn es in diesem Krieg um Konfliktvermittlung geht. Auch die EU ist da keine erste Adresse und wird nur mithelfen können. Gleichwohl ist es mehr als erforderlich, dass die Bundesrepublik und die Europäische Union alle diplomatischen Initiativen nicht nur rhetorisch sondern auch tatkräftig unterstützen und eigene Überlegungen beisteuern. Grundsätzlich sollte es darauf ankommen, die EU stärker als eine Instanz zur friedlichen Konfliktbearbeitung und –lösung auszubauen. Dabei wird die Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte zur Versöhnung genauso wichtig sein wie die stetige Finanzierung konzeptioneller Vorarbeiten für Friedensdiplomatie im Wissenschaftsbereich. Und es bleibt weiter nötig, die Ursachen der gewaltträchtigen Konflikte herauszuarbeiten und daraus Strategien für dauerhaften Frieden abzuleiten.

Wie könnten vor diesem Hintergrund pragmatische Vorschläge für eine fortschrittliche Friedens- und Sicherheitspolitik aussehen? Dazu einige vorläufige Überlegungen.

→ Eine „Kanonen-statt-Butter“-Politik ist abzulehnen, Sozialstaat, Ökologie und Verteidigung gehen zusammen.

Eine Einschränkung der Ausgaben für Soziales, die Umwelt, für Bildung, für Entwicklungszusammenarbeit für Zwecke der Aufrüstung kommt für uns nicht in Frage. Im Gegenteil: Das, was an Zukunftsinvestitionen für die sozialökologische Transformation unabweisbar ist, muss auch erbracht werden. Diese Auseinandersetzung um die Mittelverteilung im Bundeshaushalt wird sich spätestens mit dem Auslaufen des 100 Mrd. Sondervermögens für die Bundeswehr im Jahre 2027 zuspitzen. Um die nötigen Ausgaben zu finanzieren, muss die widersinnige Schuldenbremse aufgehoben, müssen Möglichkeiten, Finanzressourcen durch die Abschöpfung des superreichen Teils der Gesellschaften zu generieren, beträchtlich ausgeweitet werden (Reichensteuer, Erbschaftssteuer, Vermögensabgabe etc.). D.h. aber auch, dass der Einwand von links, ein Mehr an militärischer Verteidigung und die Verteidigung des Sozialstaates gehe partout nicht zusammen, nicht unbedingt zutrifft. Die Umrüstung der Bundeswehr und ein guter Sozialstaat sind im Rahmen unserer Wirtschaftskraft bezahlbar.

→ Militärkritik bleibt wichtig

Zu Recht wird von linker Politik ein Übergewicht des militärischen Denkens in der hiesigen Öffentlichkeit beklagt, das jegliches Nachdenken über zivile Alternativen an den Rand zu drücken droht. Es ist bitter notwendig, sich immer wieder bewusst zu machen, welche Demokratiegefährdungen, ja –unverträglichkeiten mit einem militärisch-industriellen Sektor und dem Sozialsystem „Militär“ verbunden sein können.45 Wir reden hier über exorbitante Kosten, die zu Lasten ziviler Entwicklung gehen, über den ganzen Bereich der Korruption und Verschwendung, der durch Monopolstrukturen aber auch durch militärische Geheimhaltungszwänge - d.h. auch unzureichende parlamentarische Kontrolle - begünstigt wird. Wir reden über die Versuchung „im schlimmsten Fall“ zu denken und mit Feindbildern die eigene Tätigkeit legitimieren zu wollen. Welche Gefahren aus dem Befehl-Gehorsam-Prinzip erwachsen, hat die Geschichte der Wehrmacht gezeigt. Die Bundeswehr hat danach das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ auf den Schild gehoben, um die Bindung des soldatischen Tuns an Völkerrecht und Gesetz zu betonen. Wie wir wissen (Rechtsextremismus in der Truppe bspw.), ist dieses Prinzip immer wieder umstritten, und die Umsetzung erschöpft sich oft in bürokratisch-ritualisierten Umgangsformen. Wenn „Kriegsertüchtigung“ oben an stehen soll, wie von Minister Pistorius postuliert, sind äußerste öffentliche Wachsamkeit und die gesellschaftliche Kontrolle der Streitkräfte geboten.

→ Verteidigung mit Augenmaß!

Verteidigungspolitik mit Vernunft beginnt damit, eine möglichst genaue Bedrohungsanalyse einzufordern. Leider sind die nötigen Informationen in Zeiten des Krieges und verschärften Geheimhaltungszwängen nur sehr schwer zu erhalten. Die völlige Erosion internationaler Rüstungskontrolle (Open Skies, vertrauensbildende Maßnahmen, Datenaustausch im Rahmen des KSE-Vertrages etc.) kommt nun hinzu. Aber nüchterne Abwägungen können wir dennoch vornehmen und uns damit gegen die halt- und kritiklose Übernahme militärischer worstcase-Szenarien durch die Politik wappnen. Zugleich geht es insbesondere darum, im Auge zu haben, welche Eskalationsrisiken durch Wettrüsten und Konfrontationspolitiken befördert werden und wie man ihnen entgegenwirken will. Nicht nur im Ukraine-Krieg ist strikte Eskalationskontrolle angesagt.

Eine auf „Kriegsertüchtigung“ gepolte Öffentlichkeit trägt die Gefahr in sich, dass Abwägungsprozesse bezüglich der Risiken und Kosten des Krieges, die Erörterung von Alternativen, schlicht niedergebügelt werden. Wer Verteidigung mit Augenmaß will, muss deshalb an pluralen, sachbezogenen Debatten statt schierer Meinungsmache in der Öffentlichkeit interessiert sein.

→ Mehr über defensive Verteidigung nachdenken

In den siebziger und achtziger Jahren wurden Überlegungen angestellt, wie militärische Strukturen Ausrüstungen und Einsatzdoktrinen verändert werden könnten, um mehr Sicherheit und Stabilität in den internationalen Beziehungen herbeiführen zu können. „Defensive Verteidigung“ und „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ waren dabei Schlüsselbegriffe. Diese Diskussionsansätze fügten sich in das Konzept gemeinsamer Sicherheit ein, das für diese Entspannungsphase zwischen Ost und West prägend war. Aufbauend auf dem ohnehin gegebenen Vorteil des Verteidigers im Krieg sollten grenzüberschreitende, raumgreifende Offensivpotenziale minimiert bzw. durch defensiv ausgerichtete Militärformationen ersetzt werden.46 Es ist sehr schade, dass diese Überlegungen in den heutigen Debatten überhaupt keine Rolle mehr spielen. Aber was ist von diesen Ansätzen heute zu übernehmen? Wie lässt sich diese Idee mit den dramatischen militärtechnologischen Umwälzungen seitdem in Einklang bringen? Denken wir an die gesamte Kategorie ferngelenkter Abstandswaffen, an bewaffnete Drohnen und das stark gestiegene Gewicht der Luftstreitkräfte im Verbund der Waffen. Diese Waffensysteme sind eben offensiv wie defensiv einsetzbar. Sie werden in den jüngsten Kriegen massiv eingesetzt.

Inwieweit lassen sich solche, zunächst nationalstaatlich konzipierte Umbaukonzepte mit integrierten Militärstrukturen, wie es in der NATO der Fall ist, vereinbaren? Lutz Unterseher geht bei seinem Vorschlag für eine defensive Verteidigung der Ukraine davon aus, dass sich die westliche Hilfe eher abschwächen und die Ukraine schließlich auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ angewiesen sein wird. Doch ohne die NATO-Unterstützung ist ein erfolgreiches Widerstehen der Ukrainer gegen die russischen Angreifer wenig vorstellbar. Und der Vorschlag, die spärlicher werdende Waffenhilfe des Westens auf das Modell einer defensiven Verteidigung zu orientieren, wird daran scheitern, dass die Ausrüster, Militärberater und –ausbilder aus den USA, Großbritannien und andern NATO-Ländern nicht so schnell umdenken werden.

Aber die Grundideen einer defensiven Verteidigung sollte man dennoch, im Auge behalten und weiterentwickeln. Sie könnten spätestens bei künftigen Abrüstungsverhandlungen eine Rolle spielen.

→ Das Reformkonzept der Bundeswehr auf den Prüfstand stellen

Der gegenwärtige Umbau der Bundeswehr scheint auf ein Zurück zur alten „Verteidigungsarmee“ der achtziger Jahre hinauszulaufen. Diese Grundstrukturen werden durch die neuen Mittel und Instrumente der Kriegsführung (Drohnen, CyberWarfare etc.) angereichert. Ob ein solches Streitkräftedispositiv alternativlos ist, ist eine offene Frage. Zumindest könnte hinterfragt werden, wie viele Panzer noch gebraucht werden? Was kann von den Streitkräften Schwedens und Finnlands gelernt werden, die aus ihrer Neutralitätstradition heraus, auf Abwehr gesetzt hatten? Oder braucht die deutsche Marine tatsächlich noch mehr Fregatten, die für Einsätze im Südchinesischen Meer vorgesehen sind? Was soll dabei der besondere deutsche Beitrag für das Streitkräftedispositiv der NATO sein? Sinnvoll erscheint es etwa, sich darauf zu konzentrieren, die Verlegefähigkeit der Bündnisstreitkräfte nach Osteuropa zu sichern. Die festgelegten Maßnahmen zur Verteidigung an der NATO-Grenze im Osten sollten umgesetzt werden. Wie viel Geld wird dafür benötigt? Werden die Ambitionen für globale Einsätze auch wirklich zurückgefahren oder gar noch gesteigert?

→ Am Grundsatz einer äußerst restriktiven Rüstungsexportpolitik festhalten

In den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung aus dem Jahre 2000 sind Kriterien festgehalten, die bei der Ausfuhr von Waffen aus Deutschland strikt zu beachten sind. Darunter finden sich Festlegungen, dass Waffen nicht geliefert werden sollen, wenn sie zu kriegerischer Eskalation beitragen, wenn in Empfängerländern inakzeptable Menschenrechtsverletzungen auf der Tagesordnung sind, wenn durch übermäßige Rüstung Entwicklungen blockiert werden etc. Eigentlich wollten SPD und Grüne in der jetzigen Regierungskoalition diese Grundsätze in eine Gesetzesform gießen und damit verbindlicher machen. Genau daran ist festzuhalten! Dass solche Waffenlieferungen nicht über einen Leisten geschlagen werden dürfen, mit den Hilfsleistungen für den Verteidigungskampf der Ukraine ist ein Gebot moralischer und politischer Redlichkeit. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Grundgesetz für die übergeordnete Bedeutung des Völkerrechts entschieden (Art. 25 GG) und damit das Recht angegriffener Staaten auf Selbstverteidigung anerkannt. Diese Nothilfe in eins zu setzen mit der Lieferung von Kampfpanzern an Saudi-Arabien ist grober Unsinn. Dass nun die Bundesregierung eine solche Waffenausfuhr aus „geopolitischen Erwägungen“ für erforderlich hält und bereit ist, die eigenen Exportrichtlinien zu missachten, ist inakzeptabel und zu verurteilen.

→ Schritte zur Vertrauensbildung, der Rüstungskontrolle und Abrüstung immer wieder auf die Agenda bringen.

Die Destabilisierungs- und Eskalationsrisiken sind durch die Erosion der Rüstungskontrolle einerseits, die Gewaltkonfrontation im Osten Europas andererseits stark angewachsen. Alte Themen wie „Krieg aus Versehen“ sind wieder aktuell. Daher wären Schritte zur (nuklear-) strategischen Stabilität trotz Regionalkrieg dringlich. US-Präsident Biden hat dem russischen Konterpart die Fortsetzung der Verhandlungen über die strategischen Systeme (New START) angeboten; Präsident Putin hat abgelehnt und stattdessen die Verlegung von russischen substrategischen Waffen nach Belarus veranlasst und die Suspendierung des Teststoppabkommens erklärt. Das darf nicht das letzte Wort sein. Es wäre klug, in die US-amerikanisch-russischen Verhandlungen auch das Thema der Raketenabwehr einzubeziehen, um Sicherheitsbelange Moskaus aufzunehmen. Die Einbeziehung Chinas in die Gespräche zu nuklearer Rüstungskontrolle und Abwehr wird nicht zuletzt mit Blick auf den Rüstungswettlauf in Fernost zum Gebot der Vernunft. Da die vertrauensbildenden Maßnahmen und Einrichtungen (NATO-Russland-Rat) aufgekündigt sind oder auf Eis liegen, sollten alle möglichen Gesprächskanäle offen gehalten werden. Statt über eine illusorische und unsinnige Atombewaffnung der EU zu fabulieren, sollte die europäische Außenpolitik auf neue Vereinbarungen zur nuklearen Rüstungskontrolle drängen und sich auf eine EU-Agenda zur Abrüstung nach dem Krieg vorbereiten. Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch.47

→ Über den Tag hinaus denken

Der Grundgestus fortschrittlicher Politik sollte davon bestimmt sein, Entwürfe für eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur vorzuschlagen, die nach der Eiszeit des Krieges, unverzüglich angegangen werden sollten. Es wird nicht reichen, diese Entwürfe am Tag X zu aus der Schublade zu ziehen. Schon heute ist es wichtig, solche Perspektiven aufzumachen. So wird es nicht reichen, wenn man zur Beendigung des Krieges beitragen will, rhetorisch Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Angebote zur Kooperation „nach dem Krieg“ und zur sukzessiven Aufhebung der Sanktionen sind schon heute wichtig, um Teile der Bevölkerung Russlands für einen Friedensprozess zu gewinnen. Es ist auch kein Fehler sich mit Übergangsszenarien zum Frieden zu beschäftigen, in denen der UNO bzw. der OSZE eine tragende Rolle zukommen sollte. Dies schließt Überlegungen ein, wie die NATO durch eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung inklusive Russlands, schließlich ersetzt werden könnte. Sich ernsthaft mit den Vorschlägen einer New Agenda for Peace zu befassen, sollte hier und heute beginnen. Denn die Vorstellung, dass man sich auf eine sehr lange Zeit unversöhnlicher Konfrontationsszenarien einrichten müsse, konfligiert fundamental mit den Erfordernissen zur konstruktiven und kooperativen Bearbeitung der großen globalen Probleme (Klimakatastrophe) und ist daher nicht akzeptabel. Vielmehr ist es elementar wichtig, an Konzepten gewaltfreier Konfliktlösungen und der friedlichen Zusammenarbeit festzuhalten und diese weiterzuentwickeln.

 

Paul Schäfer, Köln, 07.04.2024

 

 

Literatur:

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Fußnoten

1) Wolfram Wette: Diskussionsbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 2.3.2024

2) Ulrich Menzel: Wendepunkte. Am Übergang zum autoritären Jahrhundert. Berlin 2023.

3) Egon Bahr: Zu meiner Zeit. München 1996

4) Martin Schulze-Wessels: Der Fluch des Imperiums, München 2023.

5) Mehr dazu: Serhij Plokhy: The Russo-Ukrainian War. Penguin Books, 2023

6) Berthold Franke: Für einen neuen Faschismusbegriff, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`23

7) August Thalheimer: Über den Faschismus. 1928. Siehe dazu auch: Klaus Dörre: Der Krieg gegen die Ukraine und der Kampf um eine neue Weltordnung. In: Das Argument 340, 2023

8) Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986, S. 701,

9) Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts. München 1995. S.185

10) ebd. S. 199

11) ebd., S. 197

12) Klaus Schlichte: 3x Ukraine. Zur Politischen Soziologie eines Angriffskrieges. In: Leviathan, Heft 3/22, S. 413-438, und Sebastian Hoppe: Kategoriale Dissonanzen. Russlands regressiver Weg in den Krieg und die Historische Soziologie imperialistischer Außenpolitiken, In: ZeFKo Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1/2023. Wiesbaden 2023. Hoppe setzt sich in seinem Text kritisch mit den „strukturalistischen“ Imperialismustheorien auseinander und entwickelte seine Charakterisierung des Putin-Regimes aus der empirisch zu verfolgenden historischen Entwicklung heraus. Eine politisch-ökonomische Analyse des Putin-Regimes liefert: Felix Jaitner: Russischer Kapitalismus. Die Zukunft des „System Putin“. Hamburg 2024

13) Dazu nur ein Lesehinweis: Gerd Koenen. Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland. München 2023.

14) Berthold Franke (Für einen neuen Faschismusbegriff - s. Literatur) hat recht: Der verengte Blick auf die NS-Diktatur hierzulande verstellt die Sicht auf die Faschismen, die jeweils sehr spezifische Ausprägungen aufweisen bei sehr ähnlicher Grundkonfiguration.

15) Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. München 2023

16) Sebastian Hoppe, in ZeFKo 1`2023

17) Emma Beals, Peter Salisbury: The World at War, Foreign Affairs, Oktober 2023

18) Ulrich Menzel: Wendepunkte. Am Übergang zum autoritären Jahrhundert. Berlin 2023

19) Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Berlin 2023.

20) Mohamad alBaradei: Weltordnung in Trümmern. In: IPG-Journal vom 25. Januar 2024

21) Antonio Guterres, A New Agenda For Peace. https://dppa.un.org.

22) Abgefragt unter https//srf.ch, 30.03.2024

23) Markus Reisner, Christian Hahn in: SIRIUS, Heft 1/2023; siehe Literaturanhang.

24) Hannes Koch: Unbeschadetes Russland. In: Frankfurter Rundschau vom 14.3.2024, S. 10

25) Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie. In: Handelsblatt Journal. Sonderveröffentlichung von euroforum Deutschland. Februar 2024

26) zit. nach: Kölner Stadt Anzeiger vom 15.03.2024

27) Helmut W. Ganser: Eingeengte Debatte. In: IPG-Journal vom 12.03.2024

28) Siehe dazu: Lutz Unterseher: Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine, Münster 2023

29) Franz-Stefan Gady, Michael Kofmann: Making Attrition Work: A Viable Theory of Victory for Ukraine. In : Survival, vol.66 no.1, Feb, March 2024

30) Jack Watling, Nick Reynolds: Russian Military Objektives and Capacity in Ukraine Through 2024, abgefragt unter www.rusi.org, 13.2.2024

31) Wolfgang Zellner: Dschidda oder Hoffnung auf Frieden. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10`23

32) Martina Fischer: Wie kann man den Krieg gegen die Ukraine beenden? Blog: https://brot-fuer-die-welt.de, 02.08.2023

33) Paul Schäfer: Die Johnson-Legende oder: „Wie der Westen den Frieden verhinderte“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4`23

34) Julia Strasheim: Why do warring parties enter negotiations during an ongoing war? Inside from the 2022 Ukraine-Russia talks. In: ZeFKo, Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1/2023

35) Yaroslav Trofimov: Our Enemies Will Vanish. The Russian Invasion and Ukraine`s War of Independence. New York 2024

36) Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat zu Recht angemahnt, dass man darüber nachdenken und sprechen muss, wie man zu einer diplomatischen Beendigung des Krieges kommen kann. Er hat diese Vorstellung, mit dem Begriff des Einfrierens verbunden, das wiederum als Beginn eines Verhandlungsprozesses gedacht war. Das war zumindest missverständlich formuliert und bedurfte nachträglicher Korrektur. Die gehässige Kampagne gegen Mützenich durch die selbstgefälligen Kriegsstrategen ist aber mitnichten angebracht.

37) Frank Hoffer Bitterer Waffenstillstand oder Krieg bis zu einem Sieg? In: https://www.social europe vom 22.02.24

38) Orlando Figes, in: Tages-Anzeiger (CH) vom 6. Februar 2023, S. 12

39) Beatrice Heuser: Welche Friedenslösungen für den Russland-Ukraine-Krieg? Gedanken zu Strategien des Friedensschließens, in: Zeitschrift SIRIUS 1/23. B. Heuser hat die verschiedenen Szenarien einer Kriegsbeendigung anschaulich und ausgewogen durchgespielt. Ihr Fazit klingt plausibel.

40) Tim Boverie, Mit Hitler reden, 2021. Boverie setzt sich anhand der historischen Quellen akribisch mit der Politik der Tory-geführten Chamberlain-Regierung in Großbritannien in den 30er Jahren auseinander, ihrer geistigen Grundlagen und praktischen Folgen. Auch wenn man Vieles für nicht übertragbar hält: Ein Lehrstück.

41) Moskaus Macht und ihre Grenzen. In: Handelsblatt vom 23./24./25. Februar 2024, S. 41

42) Siehe dazu die Beiträge in: Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie. Handelsblatt Journal, Februar 2024

43) Stefan Mair, Volker Perthes: Ideen und Macht. Was definiert die relative Gewichtsverteilung in der Welt? In: Internationale Politik 03/2011

44) Dirk Peters: Eine militärisch autonome EU? Europäische Sicherheit und transatlantische Partnerschaft nach Afghanistan. https:blog.prif.prg/2022/02/08

45) Ruth Rohde, Gefahren für die Demokratie, Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 6.3.2024, S. 10

46) Horst Afheldt: Verteidigung und Frieden. Politik mit militärischen Mitteln, München 1976; Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (Hrsg.): Strukturwandel der Verteidigung. Entwürfe für eine konsequente Defensive, Opladen 1984. Zuletzt: Lutz Unterseher: Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine. Grundlagen und Programm. Berlin 2023

47) Tobias Fella: Nuclear Arms Control is for Realists, in: The National Interest, https://nationalinterest.org